Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
mit ihren klugen dunklen Augen an. »Geh und such die Tauben«, sagte er leise. »Mir geht es gut.« Der Falke sah ihn noch einen Moment länger an, dann flog er auf, um sich etwas zum Fressen zu beschaffen. Orris lehnte sich an ein Gebäude und holte tief Luft. Er hatte nun schon seit Wochen befürchtet, dass so etwas geschehen könnte. Tatsächlich hatte er es in gewisser Weise die ganze Zeit gewusst. Aber das machte es nicht einfacher. Er und Anizir waren nun in Bragor-Nal und vollkommen auf sich allein gestellt.
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M ir ist vollkommen klar, dass dieser Bericht von vielen meiner Kollegen im Orden scharf kritisiert werden wird. Ich begreife auch, dass kein Aspekt meiner Ergebnisse und Vorschläge hitziger diskutiert werden wird als mein Beharren darauf, dass die Bevölkerung von Tobyn-Ser viel mit der von Lon-Ser gemeinsam hat. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass unsere beiden Länder einen gemeinsamen Ursprung haben. Bevor Arick in seinem Zorn das Land, das er seinen Söhnen gegeben hatte, teilte, waren Tobyn-Ser und Lon-Ser eins. Es sollte also nicht überraschen, dass die Sprache von Lon-Ser der unseren in gewisser Weise ähnelt oder dass die Bewohner von Lon-Ser - mit der Ausnahme, dass sie selbstverständlich Lon und nicht Tobyn verehren - dieselben Götter anbeten. Zweifellos müssen wir nach unserer Erfahrung mit den Fremden zunächst annehmen, dass die beiden Länder seit der Spaltung der Landmasse sehr unterschiedlichen Wegen gefolgt sind. Aber wenn wir eine friedliche Lösung für den Konflikt finden wollen, der sich zwischen uns entwickelt hat, sollten wir nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten betonen.
Aus Kapitel Eins des »Berichts von Eulenmeister Baden über seine Verhöre des Ausländers Baram«, vorgelegt auf der 1014. Versammlung des Ordens der Magier und Meister, im Frühjahr des Gottesjahres 4625.
Es war noch sehr früh am Morgen, als sein Sprechschirm ihn mit leisem Piepen weckte. Er stand langsam auf, ging zu dem Gerät und fragte sich ein wenig verärgert, wer ihn so früh am Morgen belästigte. In den ersten Wochen nach Melyors nächtlichem Besuch war er jedes Mal eilig aufgesprungen, wenn der Schirm gepiept hatte, und war mit klopfendem Herzen und trockenem Mund zu seinem Schreibtisch geeilt. Aber wie die Erinnerung an das Gespräch mit dem Nal-Lord verblasste, so verging auch die Dringlichkeit, die er wegen des bevorstehenden Eintreffens des Zauberers in Bragor-Nal zunächst empfunden hatte. »Ich habe von Spionen erfahren, dass ein Fremder auf dem Weg zum Nal ist«, hatte sie gesagt. Und Jibb hatte ihre Worte nicht angezweifelt. Immerhin war es Melyor, und ihre Beschreibung des Mannes war recht detailliert gewesen.
Zu detailliert, hatte er im Lauf der Zeit begriffen: viel genauer, als jeder Bericht eines Spions, den er je gehört hatte. Er wusste, dass Melyor zum Aberglauben neigte, und obwohl die Entscheidungen, die sie aufgrund ihrer seltsamen Überzeugungen getroffen hatte, sich im Lauf der Jahre immer als ausgesprochen günstig erwiesen hatten, hatte er diesen Aberglauben stets für ihren einzigen wesentlichen Makel als Anführerin gehalten. Offensichtlich hatte sie es in diesem Fall einfach zu weit getrieben. Offensichtlich hatte sie einiges aufs Spiel gesetzt, um ihn aufzusuchen, und wozu? Um über eine Sache sprechen, die wahrscheinlich auf einem Traum oder falscher Intuition beruhte.
Jedenfalls dachte Jibb das inzwischen. Aber als er seinen Sprechschirm einschaltete und Chevs rundes, narbiges Gesicht ihn anstarrte, begriff er, dass Melyor doch Recht gehabt hatte. Wieder einmal.
»Guten Morgen, Nal-Lord«, sagte der Gesetzesbrecher mit schiefem Grinsen. »Tut mir Leid, wenn ich dich geweckt habe.«
»Schon in Ordnung, Chev«, erwiderte Jibb. Nal-Lord. Er hatte sich immer noch nicht an diese Anrede gewöhnt. »Was ist los?«
»Ich habe es vor etwa einer Stunde erfahren: Der Zauberer ist im Nal gesehen worden.«
Jibb holte tief Luft. Wirklich außergewöhnlich. »Wo?«, fragte er.
»Einundzwanzigster Bezirk. Knapp nördlich der Mauer.« Jibb nickte. »Gut. Das bedeutet, dass er noch nicht lange hier ist.«
»Sicher nicht länger als zwei Tage. Er befindet sich noch nicht in Cedrychs Herrschaftsbereich. Sollen wir warten...« »Nein«, unterbrach ihn Jibb. »Das könnte sich sogar zu unserem Vorteil auswirken. Ich habe vor einiger Zeit in diesem Teil des Nal als Unabhängiger gearbeitet. Ich kenne mich aus. Und bei diesem Auftrag könnte es
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