Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Stadt wirken. Das ausgedehnte System von Gängen und Kammern, das sich unterhalb der Stadt befand, bot den Gildriiten ein gewisses Maß an Sicherheit, denn sie teilten es mit den Gesetzesbrechern des Nal, die, wie es Gwilym vorkam, viel mehr Freiheit hatten als die gewöhnlichen gesetzestreuen Bürger.
Bei mehreren Gelegenheiten waren der Steinträger und seine schweigsamen Führer beinahe von Banden bewaffneter Männer entdeckt worden. Zweimal war er aus einem Versteck heraus Zeuge von Morden geworden, und einmal hatten zwei Männer Gwilym und seinen Begleiter mit großen Handfeuerwaffen angegriffen, die rotes Feuer spuckten. Zum Glück hatten sie fliehen können. Und dennoch, bei allen Gefahren, denen er gegenübergestanden hatte, und trotz der scheinbaren Gleichgültigkeit der Mitglieder des Netzwerks war er ziemlich weit gekommen. Man hatte ihm genug zu essen gegeben, und er hatte immer einen Schlafplatz gehabt. Ich habe kein Recht, mich zu beschweren, sagte er sich. Ich mag einen weiten Weg hinter mir haben, aber der des Zauberers war noch weiter.
Dieser letzte Gedanke bewirkte, dass er sich von dem schmalen Feldbett erhob. Er griff nach seinem Stab und dem Rucksack und ging aus der Kammer hinaus in einen trüb beleuchteten Gang, der nach Urin und schalem Bier roch. Eine Frau, die er nicht kannte, lehnte draußen an der Wand. Ihr Haar war kurz und dunkel, wenn man von ein paar dünnen Silbersträhnen absah. Sie war bleich und ihr Gesicht war nicht mehr glatt, aber ihre Augen wirkten erstaunlich jung.
»Hast du Hunger, Steinträger?«, fragte sie mit tonloser Stimme und reichte ihm ein großes Stück dunkles Brot, ein Stück Hartkäse und einen versiegelten Wasserbehälter.
»Ja, danke.« Da die Frau gleich losmarschierte, folgte er ihr und aß im Gehen. »Ich muss heute Abend draußen sein«, sagte er zwischen zwei Bissen.
Sie warf ihm einen Blick zu, aber ihre Miene verriet nichts. »Ist das denn klug?«, fragte sie schließlich und wandte sich wieder nach vorn.
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte er lächelnd. Die Frau reagierte nicht, und Gwilym sprach weiter. »Klug oder nicht, es bleibt mir nichts anderes übrig. Heute Abend wird sich die Vision erfüllen, die mich hierher gebracht hat.« Wieder sah sie ihn an, dann nickte sie. Die Orakel hier mochten nicht so freundlich sein wie die in Oerella-Nal, aber sie verstanden, was es bedeutete, den Blick zu haben. »Also gut. Wo?«
Gwilym schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher. Im Süden, in dem Teil des Nal, der der Lon-Tobyn-Landenge am nächsten liegt. Eine Gasse zwischen zwei großen Gebäuden. In der Nähe war eine gelbe Straßenlampe.« Die Frau verzog das Gesicht. Gwilym brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie versuchte zu lächeln. »Das könnte jeder Block im Südosten von Bragor-Nal sein, Steinträger. Du musst schon ein bisschen mehr verraten.« »Bring mich einfach raus auf die Straße«, sagte er. »Die Götter werden sich schon um den Rest kümmern.« Sie starrte ihn einem Augenblick schweigend an, dann zuckte sie die Achseln.
Sie gingen weiter, und es kam Gwilym so vor, als wären sie lange Zeit unterwegs, aber das war in der ewigen Dunkelheit der Gänge schwer zu sagen. Vielleicht nach einer Stunde kamen sie an einem der kleinen blauen Leuchtzeichen vorbei, die, wie man Gwilym gesagt hatte, die Grenze zwischen zwei Bezirken von Bragor-Nal markierten. Gwilyms Begleiterin ließ sich allerdings nicht anmerken, dass dies eine Bedeutung hatte; sie blickte nur kurz zu dem Licht auf, ohne einen Schritt langsamer zu werden. Sie führte ihn mit verblüffender Sicherheit durch die verzweigten Gänge, nahm Abzweigung um Abzweigung, ohne sichtbar zu zögern. Gwilym vermutete, dass sie sich bereits in die richtige Richtung bewegten, aber er hätte es nicht mit Sicherheit sagen können. Wieder einmal musste er sich, wie so oft, seit er das Dhaalmargebirge verlassen hatte, vollkommen auf den guten Willen und die Kompetenz anderer verlassen. Da er selbst ein Anführer gewesen war, war er daran gewöhnt, dass sich die Menschen um Anleitung und Schutz an ihn wandten. Diese neue, umgekehrte Rolle fiel ihm immer noch nicht leicht.
Nach einiger Zeit achtete Gwilym nicht mehr sonderlich auf die Frau vor sich und den Weg, den sie durch das unterirdische Labyrinth nahmen. Wieder einmal hatte er in der Nacht zuvor schlecht geschlafen, und er war müde von Monaten ununterbrochenen Reisens. Hier stand er nun kurz vor der Begegnung mit dem Mann, dessen
Weitere Kostenlose Bücher