Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
einer grauen Taube, und sie sprang von seiner Schulter und flog durch die Tür ins graue Tageslicht. Der Führer wollte die Tür wieder schließen, aber Orris hielt ihn mit einem Wort und einem Kopfschütteln auf. Wieder begann der Mann, mit Gwilym zu streiten, und wieder setzte Orris' Freund sich durch: die Tür blieb offen. Der Führer schüttelte missbilligend den Kopf, ging die Treppe hinunter und ließ Orris und Gwilym allein in der Tür stehen. Orris hatte so viele Fragen, die er seinem neuen Freund stellen wollte, dass er selbst dann nicht gewusst hätte, wo er anfangen sollte, wenn sie tatsächlich im Stande gewesen wären, sich zu unterhalten. Waren sie einander zufällig begegnet, oder hatte Gwilym gewusst, wo Orris auftauchen und dass er Hilfe brauchen würde, und wenn ja, wie? Wohin gingen sie? Wer waren diese Leute, die ihnen halfen? Wer waren die Männer, die versucht hatten, ihn umzubringen? Woher hatte Gwilym seinen Umhang und seinen Stab? Orris lächelte innerlich - das war vermutlich die unwichtigste Frage, und dennoch war es auch die leichteste und in so mancher Hinsicht die interessanteste.
Er machte Gwilym auf sich aufmerksam und zeigte dann auf den Stab mit dem leuchtenden braunen Stein. Gwilym hielt ihn Orris hin, als wollte er ihn ihm anbieten. Orris tat dasselbe mit dem seinen, und die beiden Männer tauschten die Stäbe. Gwilyms Stab fühlte sich erstaunlich leicht an, als wäre er uralt, und das Holz war vom langen Gebrauch so glatt wie Glas. Selbst der Kristall sah alt aus, die Ecken und Kanten abgeschliffen. Orris konnte sehen, dass einmal Runen in den Stab geschnitzt gewesen waren, aber sie waren beinahe vollkommen abgegriffen. Nur unten am Ende des Stabs waren einige Schnitzereien besser erhalten geblieben. Als Orris sie sich näher ansah, konnte er es kaum glauben - die Runen stammten aus dem Mirel, der alten Sprache von Tobyn-Ser.
Er sah Gwilym erstaunt an und stellte fest, dass der ältere Mann ihn bereits forschend anschaute, als wartete er auf Orris' Reaktion auf die Schnitzereien.
»Dieser Stab kommt aus Tobyn-Ser«, flüsterte Orris. Gwilym schien ihn verstanden zu haben und nickte. »Aber wie ist das möglich?«
Gwilym sagte ein einzelnes Wort und wiederholte es dann. Orris brauchte einige Zeit, um zu begreifen, dass es sich um einen Namen handelte.
»Was?«
»Gildri«, wiederholte der Mann noch einmal. Orris schüttelte den Kopf. »Gildri? Wer in Aricks Na...« Er hielt inne. Es hatte einmal einen Gildri im Orden gegeben, in den frühesten Tagen der Magie. Er war ein leidenschaftlicher Anhänger Therons gewesen, als der Erste Eulenmeister mit Amarid um die Führung im Orden kämpfte. Als die lange Freundschaft, die Amarid und Theron miteinander verbunden hatte, in eine Fehde umschlug, weil die beiden sehr unterschiedliche Ansichten darüber hatten, welche Position der Orden in Tobyn-Ser einnehmen sollte, hatte dieser Konflikt auch die Anhänger der beiden Meister erfasst und gedroht, den neu gegründeten Orden zu zerreißen. Dieser Kampf erreichte seinen Höhepunkt, als man Theron wegen des Todes eines Mannes in der Heimatstadt des Eulenmeisters vor ein Gericht des Ordens stellte. Angeführt von Amarid stimmte eine Mehrheit von Magiern für Therons Hinrichtung. Theron reagierte, indem er den finsteren Fluch aussprach, der alle Magier, die ungebunden starben, zu ewigem Umhergeistern verdammte, und dann nahm er sich das Leben und wurde selbst der erste Unbehauste. Nach dieser Tragödie hatte eine kleine Gruppe von Therons treuesten Anhängern, geführt von einem Mann namens Gildri, den Orden und schließlich auch, wie man glaubte, Tobyn-Ser verlassen. Die Geschichte verlor sie bald aus den Augen - niemand in Tobyn-Ser hatte je erfahren, was aus ihnen geworden war und wohin sie gegangen waren.
Aber hier stand nun Gwilym vor Orris, in einer Tür inmitten dieser riesigen, schmutzigen Stadt in Lon-Ser, und behauptete offensichtlich, dass er Gildris Stab besaß. Und so, wie das Holz und der Kristall aussahen, musste Orris ihm einfach glauben.
»Wie ist das möglich?«, fragte er und starrte seinen neuen Freund an.
Gwilym runzelte die Stirn. »Gildri«, wiederholte er. »Gildri, ja, ich weiß«, erwiderte Orris, und seine Frustration über ihre Unfähigkeit, miteinander zu sprechen, wuchs. »Aber woher hast du ihn?«
Das Stirnrunzeln wurde heftiger, und schließlich zuckte Gwilym resigniert die Schultern und schüttelte den Kopf. Orris zwang sich zu einem Lächeln. »Schon
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