Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
werden sie uns ja überraschen. Du solltest ihnen zumindest noch einen Tag Zeit lassen, bevor du etwas tust, was du später vielleicht einmal bereuen wirst.« »Ich werde darüber nachdenken«, antwortete Orris. »Gute Nacht, Baden.«
»Bis morgen.«
Orris sah dem hageren Mann nach, als dieser die Treppe zu seinem Zimmer hinaufging. Ihre Beziehung war merkwürdig. Sie blickten auf eine lange Geschichte des gegenseitigen Misstrauens und der Feindseligkeit zurück, aber in vielerlei Hinsicht verstand der Eulenmeister Orris besser als jeder andere in Tobyn-Ser. Wie sonst hätte Orris erklären können, was gerade geschehen war? Er hatte nie leicht Freundschaften schließen können; selbst bei Jaryd und Alayna, die er nun als seine engsten Freunde betrachtete, hatte er zunächst seine ablehnende Haltung gegenüber der offensichtlichen Leichtigkeit abstreifen müssen, mit der die beiden sich als einflussreiche Mitglieder des Ordens etabliert hatten. Er war immer ein Einzelgänger gewesen; er hatte viele Jahre gekämpft, um der Anführer der Falkenmagier zu werden. Und diese beiden waren - so war es Orris damals zumindest vorgekommen - einfach in die Große Halle spaziert, mit Amarids Falken auf ihren Schultern, und sofort in die Delegation zu Therons Hain aufgenommen worden - die wichtigste Mission in der Geschichte des Ordens. Sicher, sie hatten das Vertrauen Jessamyns und der anderen Ordensmitglieder schon bald gerechtfertigt. Sie hatten sich nicht nur dem unbehausten Geist Therons gestellt, sondern den Ersten Eulenmeister sogar davon überzeugt, dem Orden zu helfen. Dennoch, Orris' Ablehnung hatte nur langsam nachgelassen. Die Freundschaft mit den beiden war das Endergebnis von schwerer Arbeit auf beiden Seiten. Und nun sah es so aus, als könnte auch Baden ein Freund werden. Das kam sehr unerwartet, und Orris war überrascht festzustellen, wie sehr es ihn freute.
Aber es gab andere, schwierigere Dinge zu bedenken. Badens Warnungen hatten ihn ernüchtert und gezwungen, noch einmal darüber nachzudenken, wie ungeheuerlich das war, woran er da dachte, aber sie hatten auch vieles klarer gemacht. Orris hatte seine Entscheidung getroffen; nun brauchte er einen Plan. Er bestellte sich noch ein Bier und ging damit an einen kleineren Tisch ganz hinten im Schankraum. Es gab vieles, worüber er nachdenken musste.
Sechzehn lang, zwanzig breit. Sechzehn lang, zwanzig breit. Sechzehn lang, zwanzig breit. Sanft hin und her schaukelnd, die Knie an die Brust gezogen, den Rücken an der kalten, rauen Steinmauer und die Augen in der vollkommenen Dunkelheit weit geöffnet, wiederholt er die Worte wieder und wieder, rezitiert sie, als wäre er ein Geistlicher, der in einem von Lons Klöstern seine Litanei rezitiert. Er kann die monotonen Geräusche der Grillen von draußen hören, die zusammen mit der kühlen, süßen Sommerluft durch das einzelne Fenster hoch über ihm hereinkommen. Manchmal hört er auch eine Eule in der Nähe rufen, und eine andere, weiter entfernte, antwortet. Aber kein menschliches Geräusch dringt zu ihm. Nichts außer seiner eigenen Stimme. Sechzehn lang, zwanzig breit. Sechzehn lang, zwanzig breit.
Er rezitiert nachts. Jede Nacht. Das tut er nun schon seit langem. Und in all dieser Zeit hat sich die Rezitation nicht verändert. Aber das liegt nur daran, dass er dieses Ritual zu spät begonnen hat. Er weiß das nun, und dennoch wagt er nicht, es wieder aufzugeben. Wenn er aufhören würde, auch nur eine einzige Nacht, würden sie sicher wieder kommen und die Steine holen, wie sie es zuvor getan hatten. Er weiß nicht sicher, wie sie es getan haben, obwohl er überzeugt ist, dass sie Zauberei benutzt und gewartet haben, bis er schlief. Aber er erinnert sich immer noch an den Morgen, als er aufwachte und begriff, dass seine Zelle kleiner geworden war. Er erinnert sich daran, wie er versucht hatte, sich davon zu überzeugen, dass er sich irrte, dass er sich alles nur eingebildet hatte. Aber er sollte bald schon eines Besseren belehrt werden. Am nächsten Tag und an dem danach geschah es wieder. Jeden Morgen, wenn er aufwachte, stellte er fest, dass die Mauern dichter aneinander gerückt waren. Also hatte er an einem kalten grauen Morgen schließlich die Steine gezählt, war wie ein Insekt durch die Zelle gekrochen. Das hatte einige Zeit gedauert, weil er sich immer wieder verzählt hatte. Aber nach einer Weile hatte er das richtige Ergebnis gehabt, und damit er es nicht vergaß, hatte er es immer wieder getan,
Weitere Kostenlose Bücher