Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Jahre her, seit Calbyr und seine Männer nach Tobyn-Ser aufgebrochen sind, und ich sehe mich gezwungen davon auszugehen, dass sie versagt haben. Selbst unter großzügigsten Umständen und wenn man viel Zeit für zusätzliche Ausbildung und eine langsame Eskalation der Angriffe einräumt, bis das Vertrauen der Bevölkerung von Tobyn-Ser zum Orden der Magier und Meister endlich genügend gestört ist, erklärt das Calbyrs langes Schweigen nicht. Ich muss davon ausgehen, dass er entweder tot oder in Gefangenschaft ist. Das ist bedauerlich. Immerhin handelte es sich um eine beträchtliche Investition von Zeit und Mitteln, und Calbyr war selbstverständlich einer der begabtesten und produktivsten Nal-Lords.
Ich bin allerdings noch nicht bereit, den Plan vollkommen aufzugeben. Zweifellos bedürfen gewisse Aspekte der Verbesserung, und im Nachhinein erkenne ich, dass einige meiner Personalentscheidungen misslich waren. Aber vorausgesetzt, dass ich einen intelligenten Anführer und eine kompetente Mannschaft finden kann, bleibe ich weiterhin der festen Ansicht, dass Tobyn-Ser erobert werden kann.
Aus dem Tagebuch von Cedrych i Vran, Oberlord des Ersten Herrschaftsbereichs von Bragor-Nal. Tag 5, Woche 2, im Winter des Jahres 3059.
Melyor wurde sogar noch früher gerufen, als sie erwartet hatte. Das leise Piepen des Sprechschirms weckte sie, noch bevor die frühmorgendlichen Geräusche von Menschen und Transportern unten auf der Straße, an der ihre Wohnung lag, lebhafter wurden. Sie stand rasch aus dem großen Bett auf und hüllte sich in einen Seidenmantel, dann ging sie über den Dielenboden zum Schirm, der auf einem Marmortisch am anderen Ende ihres geräumigen Schlafzimmers stand. Während sie das tat, spürte sie, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Das ist es, was ich wollte, erinnerte sie sich und versuchte sich zu beruhigen. Deshalb war ich letzte Nacht im Zweiten.
Sie schaltete das Gerät ein und sah zu, wie das strenge Gesicht eines von Cedrychs Gardisten schärfer wurde. Er war glatt rasiert, hatte kantige, wie gemeißelte Züge, kalte graue Augen und kurz geschnittenes blondes Haar. Sein Hals und seine Schultern waren kräftig, und die Muskeln seiner Oberarme spannten den Stoff seiner makellosen schwarzen Uniform.
Erst jetzt fiel ihr ein, wie sie wohl aussah. Sie fuhr sich mit der Hand durchs wirre Haar. Der Mann grinste höhnisch. »Melyor i Lakin?«, fragte er kühl.
»Ja.«
»Oberlord Cedrych will dich sehen.«
Sie nickte. »Wann?«
»Selbstverständlich sofort«, antwortete er in einem Tonfall, der bewirkte, dass sie sich dumm vorkam. »Du sollst sofort zu seinen Privaträumen kommen.«
Dann war das Bild auch schon verschwunden, und Melyor starrte das bläuliche Schimmern des leeren Schirms an. Sie blieb noch einen Moment lang reglos stehen und stellte sich vor, wie es sein würde, ihren Dolch in den Hals dieses unverschämten Gardisten zu stoßen. Dann erinnerte sie sich, dass ihr Dolch weg war, und sie spürte, wie ihre Angst zurückkehrte wie ein einzelner Tropfen eiskalten Wassers, der ihr über den Rücken lief.
»Das ist es, was ich wollte«, sagte sie sich abermals, diesmal laut, als könnte es ihr helfen, wenn sie die Worte hörte. Oberlord Cedrych will dich sehen. Sie nickte, genau, wie sie es vor Cedrychs Schergen getan hatte. »Ja, jede Wette, dass er das will.«
Sie schaltete den Schirm aus, ging zum Schrank neben ihrem Bett und zog rasch ein weites Hemd, eine Hose und ihre Stiefel an. Sie schnallte sich den Handwerfer um, und kurz bevor sie das Zimmer verließ, fiel ihr noch ein, sich das Haar im Nacken zusammenzubinden. Sie wusste, dass es Cedrych anders lieber sah, aber an diesem Tag wollte er sie zweifellos nicht nur als seinen »schönen Nal-Lord« betrachten, wie er sie oft nannte.
Als sie aus dem Schlafzimmer in den Gemeinschaftsraum ihrer Wohnung kam, wartete dort schon Jibb, ihr bester Sicherheitsmann. Eine beeindruckende Gestalt. Sie musste einfach lächeln, als sie ihn dort auf dem seidenbezogenen Sofa sitzen sah. Er sah auf seltsame Weise gut aus. Er war nicht elegant wie Savil oder auf markante Weise hübsch wie Dob. Aber er hatte freundliche braune Augen und jugendliche, rundliche Züge unter dichten schwarzen Locken. Obwohl er drinnen war und trotz der warmen Jahreszeit trug er immer noch eine lange schwarze Jacke über schwarzer Hose und elfenbeinfarbenem Hemd und dazu schwarze Stiefel mit Stahlstacheln. Die Uniform eines Gesetzesbrechers, dachte Melyor
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