Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Brot, ein Stückchen Räucherfleisch, mehrere Stücke Trockenobst und Wasser. Es ist jeden Tag so ziemlich das Gleiche. Dennoch, bei dem Anblick fängt sein Magen laut an zu knurren.
Nachher geht es auf den Hof, hat der Wärter gesagt. Er hat nichts von einem Bad erwähnt; aber vielleicht wird er das ja auch noch bekommen. Manchmal machen sie beides. Das wäre gut. Selbst ohne das Bad wird er seinen Spaziergang sehr genießen. Nachdem sie angefangen hatten, Steine aus seiner Zelle zu stehlen, hatte er während der Zeiten im Hof zunächst Angst und war hinterher rasch wieder zurückgerannt und hatte angefangen zu zählen. Aber bisher haben sie es tagsüber nicht versucht. Vielleicht wissen sie, dass er sie ertappt hat. Was immer auch der Grund sein mag, er macht sich während der kurzen Zeiten, in denen er die Zelle verlassen darf, keine Sorgen mehr. Und das ist gut so - er hätte sich nur schwer zwischen dem Bewachen seiner Steine und den Rundgängen im Hof und den Bädern entscheiden können. Das einzige andere, auf das er sich noch freut, sind seine Gespräche mit Baden. Und sogar die haben angefangen, lästig zu werden. Die Fragen interessieren ihn nicht mehr. In seinem Kopf ist Lon-Ser in weite Ferne gerückt - es fällt ihm immer schwerer, sich an Bilder aus dem Nal oder seines Lebens dort zu erinnern. Manchmal kommt es ihm so vor, als wisse der Zauberer mehr über Lon-Ser als er selbst. Er erinnert sich immer noch an die Morde, obwohl selbst die Erinnerungen daran wirr geworden sind. Die Gesichter der Menschen, die er in Tobyn-Ser getötet hat, verschwimmen mit denen seiner Opfer im Nal. Seine anderen Erinnerungen sind sogar noch trüber. Vielleicht ist das der Grund, wieso Baden immer mehr das anwendet, was er »Sondieren« nennt. Baram hasst dieses »Sondieren«. Nicht, dass es wehtäte - es verursacht ihm kein körperliches Unbehagen, und die Erinnerungen werden sogar angenehm klar. Aber er lehnt das Sondieren dennoch ab, wie jemand das Eindringen in sein Heim ablehnen würde - oder den Diebstahl seiner Steine.
Der Zauberer scheint das zu spüren. Er entschuldigt sich nach dem Sondieren jedes Mal, und oft bringt er Geschenke mit: Essen oder im Winter dickere Kleidung. Sie haben einander auch mehr von der Sprache des anderen beigebracht, und manchmal bleibt Baden nach einer Reihe rasch aufeinander folgender Fragen noch ein wenig und erzählt Geschichten aus der Vergangenheit von Tobyn-Ser und über das, was er als »Magie« bezeichnet. Das sind die Besuche, die Baram am meisten genießt.
Jetzt spürt er die Sonne ganz oben an seinem Kopf, warm und sanft, und er schließt die Augen und fühlt, wie die Wärme wie Honig über seine Stirn und die Nasenwurzel rinnt. Er sieht helles Orange durch seine Lider, und er öffnet die Augen ein winziges bisschen, sodass das grelle Licht Spuren in seinem Geist hinterlassen kann. Die Sonne erreicht seine Lippen, und er öffnet den Mund, als könnte er sie schmecken. Dann hebt er das Kinn und lässt die Wärme durch seinen Bart auf Hals und Brust strömen. Sie zieht weiter über seinen Körper wie eine Geliebte, wärmt seinen Bauch. Und wie an jedem sonnigen Morgen spürt er den Beginn einer Erektion, die sich gegen die abgewetzte Hose drückt. Seine Arme hängen an den Seiten, und er dreht die Handflächen nach vorn, sodass er die Wärme mit den Fingerspitzen spüren kann. Er taucht ganz darin ein: Es gibt nichts anderes mehr außer Licht und Wärme. Er sieht sie durch geschlossene Augen, er schmeckt und riecht sie, er spürt sie wie eine zärtliche Berührung. Und dann fühlt er, wie sie sich um seine Seite biegt. Gleichzeitig beginnt kalter Schatten, sein Gesicht zu überziehen: das obere Ende des Fensters. Es ist beinahe vorüber.
Einen Augenblick später geht er mit einem Seufzen zu dem Tablett mit seinem Frühstück. Der Druck in seiner Hose lässt nach.
Er isst unkonzentriert und versucht sich an die Empfindungen zu klammern, die er gerade gespürt hat, und an den Spaziergang im Hof zu denken, der noch bevorsteht. Er kaut ein Stück Trockenobst und stellt sich vor, wie die Sonne und der Wind seinen gesamten Körper massieren; vor seinem geistigen Auge sieht er die dunklen Bäume auf den Ausläufern der nahen Hügel und die Berge mit den verschneiten Gipfeln dahinter. Ein Spaziergang wird ihm gut tun. Und vielleicht auch ein Bad. Später, nach dem Frühstück und dem Schläfchen. Alles in allem kein schlechter Tag.
5
E s ist nun auf den Tag genau fünf
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