Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
bis seine Knie wund und blutig waren.
Es sind dreihundertachtzehn übrig, und dazu das Abflussloch in der Ecke, das den Platz von zweien einnimmt. Aber es ist leichter, sich an die Maße zu erinnern: Sechzehn lang, zwanzig breit.
Am selben Tag hat er beschlossen, dass er nicht mehr schlafen würde, zumindest nicht nachts, denn dann würden sie kommen und die Steine holen. Er kann sich wach halten, indem er die Maße der Zelle rezitiert, genau so, wie er es jetzt im Dunkeln tut. Er zählt mit offenen Augen und hält Wache über die Steine, die noch geblieben sind. Er ist fest entschlossen, nicht mehr zuzulassen, dass sie ihm welche stehlen.
Tagsüber gestattet er sich hin und wieder ein Schläfchen, wenn auch nicht sonderlich lang - wenn sie herausfinden, dass er tagsüber schläft, dann werden sie die Steine am Tag holen.
Er fährt mit seiner Beschwörung fort, bis das erste Morgengrauen sich hoch auf der Mauer über ihm zeigt, silbern und geisterhaft, ganz ähnlich wie der Geist des Wolfslords - Phelan hatte Baden ihn genannt - und dieses großen Tieres, an das Baram sich immer noch aus der Nacht erinnert, in der er gefangen genommen wurde. Dann hört er auf. Oder zumindest versucht er es. In letzter Zeit hat er öfter versucht aufzuhören und festgestellt, dass er immer noch sprach, wenn es in der Zelle längst hell geworden war. An diesem Morgen jedoch hört er wirklich auf. Er ist ziemlich sicher - das Problem ist nur, dass er die Worte immer noch in seinem Kopf hören kann, selbst wenn er sie nicht laut ausspricht. Und wie jeden Morgen beobachtet er die Mauer und wartet. Wenn das silbrige Licht golden wird, weiß er, dass die Sonne scheint, und er steht langsam auf, reckt und streckt die steifen Glieder, und dann lehnt er sich gegen die andere Mauer, sodass, wenn die Sonne weit genug an Tobyn-Sers Himmel aufgegangen ist und das gebrochene Rechteck aus Licht langsam die Mauer seiner Zelle hinabkriecht, die Sonnenstrahlen sein Gesicht berühren werden wie die warmen, zärtlichen Finger der Göttin. Wenn das silberne Licht allerdings grau wird und seine kühle und düstere Qualität behält, wird er bleiben, wo er ist, und hoffen, dass es regnet, sodass die Tropfen, die auf das Fensterbrett fallen oder gegen die Eisengitter geweht werden, auf ihm landen. Die besten Tage sind die im Spätsommer, wenn die Sonne morgens oft scheint und Gewitter die Nachmittage abkühlen. Die Winter andererseits sind sehr schlimm. Die Nächte sind lang, die Tage meist grau, und selbst die zweite Decke, die sie ihm geben, hilft nicht ausreichend gegen die Kälte.
Aber nun ist es Mittsommer, und wie er bald erfährt, ist der Himmel klar. Vorsichtig kommt er auf die Beine und schlurft quer durch die Zelle, um sich mit dem Rücken an die andere Wand zu lehnen. Er bleibt stehen, die Augen zum Fenster erhoben. Der lange, verfilzte Bart und das noch längere Haar hängen ihm bis zur Taille. Und er wartet darauf, dass die Sonne ihn erreicht.
Vielleicht werden sie ihn heute aus der Zelle lassen und kurz im Innenhof des Gefängnisses herumführen. Vielleicht werden sie ihn ein Bad nehmen lassen. Es gibt einen Stundenplan für all diese Aktivitäten, eine Art Rhythmus seines Gefangenenlebens. Aber den hat er vergessen, ebenso, wie er längst vergessen hat, welcher Tag es ist. So ist es einfacher: Das Warten aufs Tageslicht ist schlimm genug. Das Warten auf die Badetage war unerträglich. Aber nun wartet er nicht mehr auf sie; sie passieren einfach. Er hört, wie ein Riegel aufgeschoben wird, und dann quietscht eine Stahltür. Die Stiefel eines Wärters klicken auf den Steinboden des Flurs vor seiner Zelle. Frühstück. »Redest du wieder mit dir selbst, du Spinner?«, fragt der Wärter auf Tobynmir durch die kleine Öffnung oben in der Tür.
Erschrocken hört er auf zu rezitieren. Diesmal ist er wenigstens sicher.
Das blasse, narbige Gesicht verschwindet von der Öffnung, als der Wärter sich bückt. Einen Augenblick später klappt das kleine Stahlgitter unten an der Tür auf, und ein Tablett wird in die Zelle geschoben. »Da ist dein Essen, Ausländer. Und nachher geht's in den Hof.«
Das Gitter klappt wieder zu, und die Schritte des Wärters verklingen im Flur. Bald schon hört er, wie die äußere Tür verschlossen und verriegelt wird. Er ist wieder allein. Er bewegt sich nicht zu dem Essen hin - das wird er nicht tun, ehe er nicht die Sonne auf der Haut gespürt hat -, aber er wirft einen Blick darauf. Schimmeliger Käse, trockenes
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