Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
das Mädchen fertig war. »Das ist jetzt alles.«
Basya nickte und schloss leise die Tür hinter sich. Die Älteste dachte offenbar daran, eine weitere Bemerkung über Basyas Manieren zu machen. Stattdessen holte sie schließlich abermals tief Luft, um sich wieder zu sammeln, und begann ein zweites Mal, diesmal weniger leise als zuvor und den Blick auf ihre Hände gerichtet. »Wie ich schon sagte, ich bin gekommen, um dich um deinen ... Rat zu bitten«, erklärte sie mit offensichtlichem Unbehagen. »Und zwar in einer ausgesprochen heiklen Angelegenheit.« Linnea steckte wirklich voller Überraschungen. »Selbstverständlich, Älteste«, erwiderte Sonel. »Welche Anleitung ich auch immer bieten kann, wird dir zuteil werden, und ich verspreche selbstverständlich meine Diskretion.« Die Hüterin blickte bei diesen Worten auf und nickte anerkennend. »Erinnerst du dich an Cailin?« »Selbstverständlich«, antwortet Sonel, der plötzlich kalt wurde. Ein Bild des Mädchens stand sofort vor dem geistigen Auge der Weisen: ihr glattes, dunkles Haar, das hübsche, offene Gesicht, die hellblauen Augen, die denen der Frau, die nun vor ihr saß, so ähnlich waren. Und die Traurigkeit in diesen Augen. Denn Cailin war die einzige Überlebende des Massakers in Kaera gewesen.
In einer Nacht voller Blut, Flammen und Schrecken hatte dieses Bund mit ansehen müssen, wie zwei Männer, die sich als Magier ausgaben, Cailins Dorf vollkommen zerstörten und ihre Eltern, ihre Freunde, alle Menschen, die sie auf der Welt gekannt hatte, umbrachten. Cailin war die einzige Überlebende gewesen, und das auch nur, weil die Fremden sie zu ihrer Botin gemacht hatten, damit sie bei der Kampagne zur Zerstörung des Ordens eine Rolle spielte. Danach hatte man das Mädchen nach Amarid gebracht, wo der Orden die Verantwortung für sie übernehmen wollte. Aber Cailin hatte weiterhin den Söhnen und Töchtern Amarids die Schuld am Tod ihrer Eltern gegeben, auch dann noch, nachdem man ihr mehrere Male erklärt hatte, dass die Männer, die ihre Stadt zerstört hatten, sich nur als Magier verkleidet hatten. Als die Hüter von Aricks Tempel verlangt hatten, Cailin sollte in ihre Obhut gegeben werden, hatte Sonel sich geweigert. Aber sie konnte sich nicht Cailins eigener Bitte wiedersetzen, dass man ihr erlauben möge, die Große Halle zu verlassen. Am Ende war Sonel gezwungen gewesen, das Mädchen den Hütern zu übergeben, die keine Zeit verschwendet hatten, Cailin zu einem Symbol ihres eigenen Aufstiegs und der Unfähigkeit des Ordens zu machen, das Land zu beschützen. »Selbstverständlich erinnere ich mich an sie«, sagte Sonel. »Wie alt ist sie inzwischen? Zehn?«
Linnea nickte zerstreut. »Ich glaube schon. Ja, zehn.«
»Geht es ihr gut?«
»Selbstverständlich geht es ihr gut!«, fauchte die Älteste mit blitzenden Augen, und ihre runden Wangen färbten sich rot. »Wir Hüter haben geschworen, dass wir uns um sie kümmern! Zweifelst du etwa an unserem Wort? Oder glaubst du, es fehlt uns an dem Mitgefühl, um ein Kind aufzuziehen?«
»Selbstverständlich nicht, Älteste«, erwiderte Sonel beschwichtigend. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber du bist hierher gekommen und hast mich um meinen Rat gebeten und gefragt, ob ich mich an Cailin erinnere. In welcher Hinsicht war meine Frage denn so unangemessen?«
Linnea schloss die Augen und schwieg. Erst nach einiger Zeit brachte sie ein dünnes Lächeln zu Stande und schüttelte den Kopf. »Deine Frage war nicht falsch, Eulenweise. Es ist nur... schwierig für mich.« Sie öffnete die Augen wieder. »Bitte verzeih mir.«
»Selbstverständlich«, versicherte Sonel ihr und erwiderte das Lächeln. »Und jetzt erzähle mir bitte von Cailin.« »Sie ist ein gutes Kind: immer noch hübsch, wie du sie zweifellos in Erinnerung hast, und klug. Sie ist eine gute Schülerin. Sie liest gerne, aber sie kann auch mit Zahlen gut umgehen. Und sie ist so stark und geschickt wie die Jungen im Tempel.« Linnea lächelte nun liebevoll, und Sonel fiel in diesem Augenblick auf, dass die Älteste das Mädchen offenbar wirklich gern hatte. Im nächsten Augenblick allerdings war Linneas Lächeln verschwunden, und ihr Blick verfinsterte sich. »Es liegt, wie man wohl erwarten würde, eine gewisse Traurigkeit über ihr. Aber was seltsam ist - diese Traurigkeit kann sich ganz plötzlich und aus dem Nichts ungemein verstärken, unter allen erdenklichen Umständen. Einen Augenblick lang lacht sie noch und erzählt voller
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