Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Gesicht.
Nach einiger Zeit wandte Sonel sich wieder Baden und der Gefahr aus Lon-Ser zu. »Ihr habt also nichts bemerkt? Keine Spur von den Fremden?«
»Keine Spur.«
Noch nicht. Er sprach es nicht aus, aber das brauchte er auch nicht. Es wurde in seinem Tonfall deutlich, und in den Schatten in seinen Augen. Sie würden kommen. Der Eulenmeister hatte offenbar ihre Gedanken gelesen. »Wir halten Wache, aber das ist alles. Wir tun nichts, was den nächsten Angriff von vornherein verhindern könnte.« Sonel seufzte. »Ich weiß. Ich habe daran gedacht, den Orden schon vor der nächsten offiziellen Versammlung nach Amarid zu rufen.«
»Warum?«
Der Frage überraschte sie. »Um über Möglichkeiten zu sprechen und einen Plan zu entwickeln, wie wir mit LonUnbehausteSer umgehen sollen.«
»Was bringt dich darauf, dass wir nun mehr Erfolg haben könnten als bei der letzten Versammlung zu Mittsommer?« »Was schlägst du denn vor?«, fragte sie gereizt. »Dass wir weiterhin nichts tun sollen? Dass wir einfach warten sollen, bis sie uns wieder angreifen?«
»Ich wollte nur wissen«, entgegnete der Eulenmeister ruhig, »wieso du eine weitere Versammlung brauchst. Du bist die Eulenweise, du bist das Oberhaupt des Ordens. Ich glaube nicht, dass du für alles, was du in dieser Funktion tust, die Zustimmung des Ordens benötigst.« Er lächelte - dieses hinreißende, entwaffnende Lächeln, dass sie im Lauf der Jahre so gut kennen gelernt hatte. »Es war nur ein Gedanke.«
Als sie jetzt in ihrem Zimmer saß, mit Tee und Brot vor sich, gestattete sie sich ein Lächeln bei dem Gedanken an diese letzte Bemerkung. Nur ein Gedanke. Nichts, was Baden je sagte, konnte leicht abgetan werden, und dieser bestimmte Gedanke hatte sie die nächsten Tage verfolgt und immer wieder an den Rändern ihres Geistes gezupft wie ein beharrliches Kind, das nach Aufmerksamkeit verlangt. Erst eine Woche später allerdings, als ein zweiter Besucher zu ihr kam und Neuigkeiten brachte, hatten Badens Anmerkung und ihre eigene Frustration über die Untätigkeit des Ordens zu dem Entschluss geführt, den Brief zu schreiben. Es war einer dieser kalten, grauen Herbsttage, die den Winter vorwegnehmen, und Sonel hatte sich fest in ihren waldgrünen Umhang gewickelt, den Sessel vor die Feuerstelle gerückt und sich dort Wärme suchend niedergelassen, als Basya an der Tür klopfte und die Besucherin ankündigte. Die Eulenweise musste ihre Dienerin zweimal bitten, den Namen zu wiederholen, und selbst nachdem sie ihn zum dritten Mal gehört hatte, war Sonel nicht sicher, ob sie es wirklich glaubte. Aber einen Augenblick später kam Linnea hereingerauscht, die höchste Autorität unter den Hütern von Aricks Tempel im ganzen Land. Die Älteste der Götter, wie ihr offizieller Titel lautete, war eine hoch gewachsene, kräftige Frau und trug das für die Hüter übliche silbergraue Amtsgewand.
Als junges Mädchen war Sonel kurze Zeit als Schülerin im Tempel in ihrer Heimat ausgebildet worden, und wie so oft in Gegenwart von Hütern musste sie dem Impuls widerstehen, auf die Knie zu fallen. Stattdessen erhob sie sich nun, lächelte und breitete die Arme in einer Geste des Willkommens aus. Als die Älteste direkt vor ihr stehen blieb, deutete sie eine Verbeugung an, um den angemessenen Respekt für den Tempel und Linneas Stellung zu zeigen, aber nicht so tief, dass es als Unterwürfigkeit betrachtet werden konnte. Das entsprach dem zerbrechlichen Gleichgewicht, das die Oberhäupter des Ordens seit beinahe einem Jahrtausend gegenüber den Kindern der Götter anstrebten. Seit Amarid gelernt hatte, die Magie zu beherrschen, waren die Beziehungen zwischen den beiden Institutionen nicht leicht gewesen. Von Anfang an hatten die Tempel den Söhnen und Töchtern Amarids misstraut und die Magier und Meister als Gefahr für ihre Autorität betrachtet. Wo der Orden den Menschen von Tobyn-Ser Heilung von Krankheit und Wunden und Schutz vor den Feinden des Landes bieten konnte, hatten die Tempel nur Überlieferung und Glauben. Die Söhne und Töchter der Götter waren nicht im Stande gewesen, mit den Magiern mitzuhalten, und ihr Einfluss war geschwunden. Und obwohl der Orden nichts unternommen hatte, um ihr Misstrauen zu bestätigen oder aktiv ihre Macht zu untergraben, hatten sich die Magier auch nicht sonderlich angestrengt, ein Bündnis mit den Hütern zu pflegen - eine Nachlässigkeit, die die Kinder der Götter als Beleidigung gewertet hatten.
In den letzten Jahren hatte
Weitere Kostenlose Bücher