Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
liefert. Es ist nicht dieser Teil des Berichts, der mich stört. Mir geht es um die Ratschläge, die sich der Eulenmeister in seinem Werk anmaßt...
Eines Tages, wenn das Volk von Tobyn-Ser es für angemessen hält, werden wir vielleicht bereit sein, uns, wie Baden vorschlägt, über die Grenzen unseres Landes hinauszubegeben. Aber im Augenblick ist das nicht der Fall. Unser Land steht einer ganzen Reihe von Problemen gegenüber, die zuvor gelöst werden müssen und zu denen unter anderem die beunruhigende Entwicklung bezüglich des Kindes gehört, das sich derzeit in der Obhut der Hüter von Aricks Tempel befindet.
Aus der »Antwort auf den Bericht von Eulenmeister Baden über seine Verhöre des Fremden Baram«, eingereicht von Eulenmeister Erland im Herbst des Gottesjahres 4625.
Der Winter kam rasch und unerbittlich zum Falkenfinderwald und zu den Hügeln oberhalb von Amarid. Tag um Tag fegte der grausame Wind von den Eisgipfeln der Parnesheimberge herab und brachte kalte Luft und trockenen, beißenden Schnee mit. Selbst die festen Steinmauern des Tempels ächzten unter dem Druck der Sturmböen und konnten die Kälte nicht abhalten. Zusätzliche Wandbehänge wurden überall befestigt, ihre kunstvollen Abbildungen der vier Götter und der Schöpfung von Tobyn-Ser eine letzte Verteidigungslinie gegen den Angriff des Winters. Aber in diesem Jahr konnte nicht einmal der zusätzliche Schutz durch die schweren Wollteppiche helfen. Cailin saß in ihrem kleinen Zimmer dicht an der Feuerstelle, fest in eine schwere Wolldecke gewickelt, und versuchte, sich auf das Stück zu konzentrieren, das sie las. Es war nicht gerade Cearbhalls bestes Drama. Die kannte sie alle schon: Die Krone von Abborij, Tränen für Leora, Götter im Tal und all die anderen. Sie waren leicht zu lesen gewesen. Aber dieses hier, ein Frühwerk, das angemessenerweise Kinderstreiche hieß, hatte bei weitem nicht den Humor der anderen und war auch nicht so spannend. Cailins Gedanken waren den ganzen Morgen immer wieder abgeschweift; sie hatte den Blick aufs Feuer gerichtet, und das dicke Buch, ein besonderes Geschenk von Linnea, der Ältesten der Götter, war unberührt auf ihrem Schoß liegen geblieben, zwar immer noch aufgeschlagen, aber vergessen. Cailin wäre am liebsten draußen gewesen und hätte zugesehen, wie Marcran über der Lichtung oberhalb des Tempels auf dem Wind ritt oder sich auf einen achtlosen Spatzen stürzte.
Sie schaute hinüber zum Kopfende ihres Betts, wo der kleine Falke saß, die großen Augen geschlossen, das Gefieder leicht aufgeplustert. Er war kaum größer als ein Häher, viel kleiner als die beindruckenden Vögel, an die Cailin sich von ihrem kurzen Besuch in der Großen Halle erinnerte. Und sie wusste, dass sich die meisten Magier an weibliche Vögel banden. Aber das war ihr egal. Er war der schönste Vogel, den sie je gesehen hatte, mit seinem zimtbraunen Rücken und der Brust in derselben Farbe, den blaugrauen Flügeln und dem roten und schwarzen Schwanz. Sein Bauch und die Seiten hatten schwarze Flecken, und im Gesicht waren zwei dunkle Linien zu erkennen, unter der blauen und rötlichen Krone. Er sah aus wie die Musiker und Tänzer, die jedes Jahr beim Arickfest ihre Vorstellungen gaben und sich dazu bunte Flickenkleider anzogen und das Gesicht anmalten. Außer, wenn er flog. Dann sah er aus wie ein regenbogenfarbener Komet, der durch den Himmel raste.
Sie hatten sich vor einem Jahr aneinander gebunden, aber es kam Cailin viel länger vor. Sie konnte sich kaum mehr daran erinnern, wie ihr Leben vor Marcran gewesen war. Oder genauer gesagt hatte sie kaum Erinnerungen daran, wie ihr Leben hier gewesen war. Sie erinnerte sich immer noch an Kaera, als wäre es gestern gewesen. Aber danach, nach dieser Nacht aus Feuer und Schrecken, die ihr Leben dort beendet hatte, war alles verschwommen. Bis zu ihrer Bindung.
Sie war auf der Lichtung gewesen. Sie war auch vor Marcran öfter dorthin gegangen. Diese Lichtung war nicht sonderlich groß, aber hier in den Wäldern nahe Amarid war es der einzige Ort, der sie ein wenig an die riesige Ebene erinnerte, auf der sie ihre frühen Jahre verbracht hatte. Es war der einzige Ort, an dem die Gedanken an ihre Eltern sie nicht zum Weinen brachten. An diesem Tag jedoch hatte sie nicht an zu Hause gedacht. Es war Herbst, und sie saß am Rand der Lichtung und sah zu, wie ein kalter Wind orangefarbene, goldene und braune Blätter von den Bäumen riss und sie zu Boden flattern
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