Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
würde nicht viele Fragen stellen. Es würde schwierig sein, sich mit dem Anführer ihrer Sicherheitskräfte in Verbindung zu setzen, aber nicht schwieriger, als es gewesen war, unbemerkt in Savils Bezirk und wieder herauszukommen. Nach allem, was sie über die Falkenmagie erfahren hatte, wusste sie, dass es nicht leicht sein würde, den Zauberer zu töten, aber das würde Jibbs Sorge sein und nicht die ihre. Sie vertraute vollkommen darauf, dass er einen solchen Auftrag ausführen konnte. Der Zauberer würde nicht lange ein Problem darstellen. Melyor schloss die Augen und wartete darauf, dass sie wieder einschlief. Aber stattdessen fand sie sich einem ganzen Schwärm unangenehmer Fragen gegenüber. Was, wenn Jibb versagte? Wies ihre Vision nicht darauf hin, dass das der Fall sein würde? Wie sonst wollte sie erklären, dass sie gesehen hatte, wie sie Seite an Seite mit dem Zauberer kämpfte? Und wie konnte so etwas überhaupt geschehen? Wieso sollte sie sich mit ihm zusammentun? Gegen wen hatten sie gekämpft? Sie setzte sich wieder hin und schaltete das Licht an.
»Ich muss schlafen!«, sagte sie sich, als könnte sie dem Zauberer befehlen, sie in Ruhe zu lassen. Sie rieb sich die Stirn und fluchte leise vor sich hin. Dann stand sie zum zweiten Mal in dieser Nacht auf, zog ihren Morgenmantel an und ging ans Fenster.
Obwohl sie Jibb vertraute, musste sie sich darauf vorbereiten, dass er vielleicht versagen würde. Sie hatte sich selbst mit dem Zauberer gesehen, und obwohl sie ihre Visionen nicht immer wörtlich nehmen konnte, waren sie zum größten Teil ziemlich akkurat. Es bestand also die Möglichkeit, dass sie dem Zauberer tatsächlich begegnen würde. Und das führte selbstverständlich zur nächsten Frage: Warum sollte sie sich mit ihm zusammentun? Wieder gelang es Melyor nicht zu ignorieren, was dieser Traum bedeuten konnte. Sie würden Verbündete sein. Aus irgendeinem Grund würde sie ihm helfen zu tun, wozu er hergekommen war. Kalte Angst durchzuckte ihren ganzen Körper. Oder würde er ihr helfen? Vielleicht sogar das Leben retten? Wenn sie nun Jibb beauftragte, ihn zu töten ...
»Hör auf damit!«, fauchte sie angewidert von sich selbst. Warum ließ sie solche Gedanken auch nur zu? »Hör einfach auf!«
Wenn Jibb versagte, dann würde sie selbst mit dem Zauberer fertig werden müssen, aber sie würde ihrem Leibwächter eine Chance geben. Sie hatte lange und schwer gearbeitet, um so weit zu kommen. Sie seufzte und warf einen sehnsüchtigen Blick zu ihrem Bett. »Ich muss schlafen«, sagte sie abermals. Aber etwas störte sie immer noch. Und als sie sich noch einmal die Vision vor Augen rief, begriff sie, dass es der Zauberer war, oder genauer gesagt das, wofür er stand.
Sie war Gildriitin. Sie hatte niemals viel darüber nachgedacht, sie hatte nur sofort begriffen, wie gefährlich es wäre, wenn jemand davon erfahren sollte. Sie hatte Gerüchte von einer Untergrundorganisation der Orakel in den Nals gehört. »Das Netzwerk« nannten sie sie. Und sie hatte sich gefragt, wie es wohl sein würde, anderen zu begegnen, die ebenfalls den Blick hatten. Aber ihre Neugier war nie groß genug gewesen, sich darauf einzulassen. Denn obwohl sie Gildriitin war, war sie doch in erster Linie Nal-Lord. Und wo die eine Identität die Gefahr von Verfolgung und Tod mit sich brachte, stand die andere für ein Versprechen von Macht und Gold. Die Wahl war ihr niemals schwer gefallen. Bis zu dieser Nacht.
Denn wenn sie die Augen schloss, sah sie wieder das strenge, aber durchaus angenehm anzuschauende Gesicht des Zauberers vor sich, dahinter allerdings auch noch eine andere Person. Sie sah ihre Mutter. Melyor war immer Tochter ihres Vaters gewesen: ein Nal-Lord, geschickt mit Messer oder Werfer und tückisch in Geschäftsangelegenheiten. Sie und ihr Vater waren so lange allein gewesen, dass es ihr ganz natürlich vorgekommen war. Aber als Frau in Lon-Ser trug sie den Namen ihrer Mutter und nicht den ihres Vaters. Sie hieß Melyor i Lakin. Und obwohl sie sich kaum an ihre Mutter erinnern konnte - oder vielleicht gerade deshalb -, trug sie diesen Namen mit Stolz und Liebe. Viel mehr hatte sie nicht von ihrer Mutter geerbt. Ihren Namen, ihre grünen Augen und das bernsteinfarbene Haar. Und den Blick.
Sie war erst neun Jahre alt gewesen, als sie ihre erste Vision hatte, und so überwältigt sie von der Lebendigkeit des Traums gewesen war, es hatte sie noch mehr verstört, als die Bilder dieses Traums am darauf folgenden Tag
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