Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
ließ.
Nach einiger Zeit wurde sie sich einer anderen Präsenz auf der Lichtung bewusst. Sie war nicht sicher, wie das geschehen war; sie wusste einfach, dass noch etwas anderes dort war. Und als sie sich umdrehte, sah sie den Falken. Er hockte auf einem niedrigen Ast, nur ein paar Fuß von ihr entfernt, und starrte sie mit großen, dunklen Augen an. Verblüfft und entzückt hatte sie ihn angesehen und nicht gewagt, sich zu rühren, um ihn nicht zu erschrecken. Einen Augenblick später war eine Flutwelle von wirren Bildern und Gefühlen durch ihren Geist getobt und hatte ihr eigenes Bewusstsein beinahe ausgelöscht. Sie war ein Falke, segelte hoch über einer Wiese, legte die Flügel an, um auf eine Feldmaus herabzustürzen, riss mit ihrem gekrümmten Schnabel an Fell und Fleisch. Dann flog sie wieder, schraubte sich auf den Windströmungen immer höher, bis sie näher an den Wolken war als am Boden unter ihr; sie stürzte sich mit ausgestreckten Krallen auf einen größeren Falken, den Schnabel zu einem zornigen Schrei geöffnet, zerriss hungrig den noch warmen Kadaver eines Finken, kämpfte mit einem anderen kleinen Falken.
Die Bilder folgten so rasch aufeinander, dass Cailin sie über die urtümlichen Gefühle hinweg, die sie ihr vermittelten, kaum begreifen konnte. Einmal entdeckte sie sich selbst und stieß einen erstaunten Ruf aus, als sie sich erkannte. Aber auch dieses Bild war so schnell wieder weg, dass es ebenso gut eine Illusion hätte sein können. Sie konnte nichts gegen die Flut tun. Sie war vollkommen verwirrt. Sie spürte, wie ihr die Welt entglitt, als wäre sie der Falke, der in den Himmel aufstieg, um nie wieder zurückzukehren. Sie konnte überhaupt nichts tun. Sie spürte, dass sie bald das Bewusstsein verlieren würde.
Und dann hörte sie, wie eine Stimme ihre Namen rief und damit beharrlich am letzten Rest ihres Geistes zerrte. Einen Augenblick lang glaubte sie, es wäre ihre Mutter, und das verwirrte sie nur noch mehr. Aber sie begriff rasch, dass es sich um Irrian handelte, die Schülerin, mit der sie sich im Tempel am engsten angefreundet hatte.
Cailin versuchte zu antworten, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie konnte nicht einmal den Blick von dem Falken abwenden. Aber als die junge Frau näher kam, schaute der Falke weg, und für einen Sekundenbruchteil war die Bilderflut unterbrochen. Das war alles, was Cailin brauchte. Plötzlich war sie wieder sie selbst, saß auf der Lichtung und betrachtete einen kleinen, bunten Falken. Und als sich der Vogel ihr wieder zuwandte, war sie bereit. Aber der Falke sendete keine Bilder mehr, sondern flog auf, kreiste noch einmal über ihr und verschwand über den Bäumen.
»Cailin!«, rief Irrian vom Waldrand her. »Wieso antwortest du denn nicht?«
Cailin starrte dem Falken noch einen Augenblick hinterher, dann wandte sie sich ihrer Freundin zu. Ihr war schwindlig, und sie zitterte.
Irrians Wangen waren gerötet von der Anstrengung, die es kostete, den Abhang zur Lichtung hinaufzuklettern, und ihr kurz geschnittenes blondes Haar wurde vom Wind zerzaust. »Alles in Ordnung?«, fragte die junge Frau besorgt, als sie auf die Lichtung kam.
Cailin nickte. Es war schwierig zu sprechen.
»Warum sitzt du dann hier?«
Das Mädchen zuckte die Achseln. »Ich sehe nur zu, wie die Blätter fallen«, brachte sie schließlich mit einiger Mühe hervor. Sie war nicht ganz sicher, wieso sie log.
Irrian neigte den Kopf zur Seite. »Die Blätter«, wiederholte sie skeptisch und sah Cailin forschend an.
Cailin erwiderte schweigend den Blick ihrer Freundin. Die Schülerin schaute sich auf der Lichtung um und holte tief Luft. »Ich verstehe, wieso es dir hier so gut gefällt«, sagte sie leise und sah Cailin dann wieder mit ihren braunen Augen an. »Aber es ist Zeit für deinen Nachmittagsunterricht.« Sie streckte die Hand aus.
Cailin kam ein wenig unsicher auf die Beine und nahm Irrians Hand.
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte Irrian. Wieder nickte das Mädchen.
Sie verließen die Lichtung und begannen mit dem Rückweg zum Tempel. Cailin, die immer noch zitterte, spähte zu den Baumkronen hoch und hielt nach dem Falken Ausschau, aber sie sah ihn nicht mehr.
»Du zitterst«, sagte Irrian besorgt. »Ist dir kalt?« »Nein.« Cailin versuchte, mit dem Zittern aufzuhören, aber sie konnte nicht. Je länger sie an die Begegnung mit dem Falken dachte, desto mehr Angst bekam sie. Sie hatte selbstverständlich von Amarid gehört. Sogar im
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