Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
bin eine Gildriitin, du Dreckskerl! Deshalb weiß ich es!«
Und bei diesen Worten hatte Mirk die Augen noch weiter aufgerissen und war gestorben.
Melyor floh aus der Wohnung, aber Mirks Männer hatten am Abend zuvor ihr Gespräch mit angehört. Sie brauchten nicht einmal zwölf Stunden, um Melyor zu finden. Aber statt sie zu töten, wie sie erwartet hatte, brachten sie sie zu Yumel, dem Nal-Lord des Vierten. Er war beeindruckt davon, dass ein so kleines, dünnes Mädchen einen seiner besten Männer getötet hatte. Vielleicht spürte er auch ihr Potenzial - jedenfalls machte er sie zum Bandenführer. Das war genau die Gelegenheit, die sie gebraucht hatte. Als Yumel sechs Jahre später einem Attentat zum Opfer fiel - niemand fand je heraus, wer dafür verantwortlich war -, bestimmte Cedrych Melyor zu seiner Nachfolgerin. Aber das Wichtigste war, dass ihr Erlebnis mit Mirk Melyor deutlich gemacht hatte, dass der Blick ihr auch helfen, ja sogar das Leben retten konnte. Sie entwickelte einen gewissen Stolz auf ihr Geheimnis, und nach diesen ersten Worten zu dem Bandenführer machte sie es zu einer Art Ritual, ihr Geheimnis mit denen zu teilen, die sie tötete. Und je mehr sie von den Gildriiten und ihrer Geschichte erfuhr, desto näher fühlte sie sich ihrer Mutter. Sie fragte sich, ob ihr Vater je von Lakins Fähigkeiten gewusst hatte. Als Mädchen hatte sich Melyor sehr angestrengt, ihre
Kräfte vor ihm zu verbergen, aber als sie nun älter war, fragte sie sich, ob das notwendig gewesen war oder ob sie und ihre Mutter in gewisser Weise ein Geheimnis geteilt hatten. Sie hätte lieber das Letztere geglaubt. Sie hatte schon so viel mit ihrem Vater gemeinsam, und ihre Mutter war schon so lange tot. Das hier war ihrer beider Geheimnis, Melyors und Lakins. Ihren Vater würde es nicht stören. Diese Verbindung zu ihrer Mutter war eine Quelle von Kraft und Trost für sie geworden. Sie hatte ihre Visionen nun leichter akzeptieren können; sie hatte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, selbst wenn sie sich nicht dem Netzwerk angeschlossen hatte. Es ließ sie glauben, dass ihr Erfolg als Nal-Lord auf beide Eltern zurückzuführen war - auf Fissar, der ihr beigebracht hatte, wie man mit einem Bezirk umgeht, und auf Lakin, die ihr den Blick gegeben hatte. Aber nie zuvor hatte ihre Begabung dermaßen zwischen ihr und dem, was sie tun musste, gestanden.
Immer noch zum Fenster und den Lichtern des Nal gewandt, schüttelte Melyor nun den Kopf. Ein Zauberer war auf dem Weg nach Lon-Ser, der Erste seit Gildri selbst. Und in ihr lag der Teil von ihr, der von Fissar abstammte, mit dem Lakin-Teil im Widerstreit. Der Zauberer drohte, alles zu zerstören. Er musste sterben. Aber er hatte einen Vogel dabei und bediente sich der Falkenmagie. Melyors Blick und die Macht dieses Mannes entstammten der gleichen Quelle. Die Verbindung zwischen ihnen war alt und zerbrechlich, aber sie war dennoch echt. Melyor konnte es spüren.
Sie wandte sich vom Fenster ab und begann, ungeduldig auf und ab zu gehen. Lächerlich, dachte sie. Ich habe die letzten beiden Jahre meines Lebens damit verbracht, mir
diese Gelegenheit zu verschaffen, nach Tobyn-Ser zu gehen und die Falkenmagie zu zerstören. Und jetzt schrecke ich davor zurück, einen einzelnen Zauberer zu töten? Sie blieb abrupt stehen und begann, ausführlich zu fluchen. Sie hatte keine Zeit für diese Dinge. Irgendwie würde sie sich morgen Nacht oder am Abend danach mit Jibb in Verbindung setzen und ihm sagen müssen, dass ein Zauberer unterwegs zum Nal war. Sollte er doch die Brauen hochziehen - sie vertraute ihm genug, um dieses Risiko einzugehen. Aber zumindest wäre sie die Sache damit los. Jibb würde sich um den Fremden kümmern, und damit wäre alles erledigt.
Sie riss sich den Morgenmantel herunter und warf ihn auf den Boden, fiel wieder ins Bett und schaltete das Licht so hektisch aus, dass sie beinahe die Lampe vom Nachttisch gestoßen hätte. Sie schloss die Augen wieder, aber sie wusste, dass es vergeblich war. Sie würde den Rest der Nacht wach bleiben. Also begann sie, Tobynmir zu üben. So wäre die Zeit wenigstens nicht vollkommen verschwendet, und sie würde keine Gelegenheit haben, über etwas anderes nachzudenken. Nicht einmal über den Zauberer.
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I ch gebe zu, dass der Bericht, den Eulenmeister Baden im vergangenen Sommer eingereicht hat, ein paar interessante Informationen über das Regierungssystem von Lon-Ser und die Probleme in diesem weit entfernten Land
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