Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Wirklichkeit geworden waren. Ihre erste Prophezeiung hatte nur eine unwichtige Angelegenheit betroffen: einen Brand in einer Bar in der Nähe. Als sie älter wurde, hatten sich die Visionen auf wichtigere Dinge konzentriert: Kämpfe zwischen Nal-Lords im Herrschaftsbereich ihres Vaters, unerwartete Besuche des Herrschers und schließlich und zu spät, als dass sie etwas dagegen hätte tun können, das Bombenattentat auf den Transporter ihres Vaters. Sie hatte die anstrengenden Visionen und die quälenden durchwachten Nächte fürchten gelernt, in denen sie darauf wartete, dass das, was sie gesehen hatte, sich endlich ereignete. Und nach dem Tod ihres Vaters, als sie nicht im Stande gewesen war, mit ihrer Trauer und den Schuldgefühlen zurechtzukommen, hatte sie erfolglos versucht, sich umzubringen.
Aber obwohl es ihr nicht gelungen war, sich zu töten, hatte sie es geschafft, sich durch reine Willenskraft vor weiteren Visionen zu bewahren. Mehrere Jahre lang war ihre Fähigkeit, die Zukunft vorauszusehen, verschwunden gewesen. Die Erinnerung an ihre Träume war verblasst, und sie hatte sich zu fragen begonnen, ob sie sich nicht alles nur eingebildet hatte - ein Kind, das unter schlimmen Albträumen und tragischen Ereignissen litt, die zu diesen Albträumen zu passen schienen.
In der Zwischenzeit war sie aus der Wohnung ihrer Tante ausgerissen, ins Nal zurückgekehrt und mit fünfzehn zu einer Gesetzesbrecherin geworden. Nun, als sie hinaus aufs Nal starrte, musste sie bei der Erinnerung daran grinsen. Gesetzesbrecher zu werden bedeutete wenig mehr als Schwarz zu tragen, barsch zu reden und etwas Illegales und möglichst Gewalttätiges zu tun. Melyors erstes Verbrechen war ein einfacher Raubüberfall gewesen. Sie hatte sich einen wohlhabend aussehenden Fremden in mittleren Jahren ausgesucht, ihn bewusstlos geschlagen und sein Geld gestohlen. Und schon war sie eine Gesetzesbrecherin gewesen.
Aber sie war die Tochter eines Oberlords, und sie hatte sich nicht mit den kleinen Delikten und der Randexistenz einer Unabhängigen zufrieden geben können. Sicher, Unabhängige konnten reich werden, aber alle, denen das gelang, waren wie Jibb: intelligent, ausgesprochen kräftig und hervorragende Kämpfer. Mit fünfzehn war Melyor nichts davon gewesen. Für die meisten lag die beste Gelegenheit zum Aufstieg darin, sich einer Bande anzuschließen, einen Anführer zu finden, der direkt für einen Nal-Lord arbeitete, und ihn dazu zu bringen, einen aufzunehmen. Mehrere Monate hatte Melyor das Nal durchstreift, von der Hand in den Mund gelebt und sich vor den Si^-Herr verborgen, die viel mehr darauf aus waren, die Gesetze zu hüten, wenn Unabhängige sie brachen, als wenn es Banden taten, und hatte auf die richtige Situation gewartet. Sie fand sie im Vierten Bezirk bei einem Bandenchef namens Mirk. Jedenfalls hatte sie das gedacht.
Sie hatte Mirk in einer Bar kennen gelernt, wo sie sich dreist selbst vorgestellt und ihm über das spöttische Lachen seiner Männer hinweg mitgeteilt hatte, dass sie sich seiner Bande anschließen wollte. Mirk schien sie ernst zu nehmen. Er nickte immer wieder und sah sie abschätzend an, bevor er ihr erklärte, dass er und seine Männer an diesem Abend zu tun hatten, dass er aber gerne am nächsten Abend in seiner Wohnung mir ihr über die Zukunft reden würde. Erstaunt über ihren Erfolg und überzeugt, dass sie kurz davor stand, in eine Bande aufgenommen zu werden, war Melyor in ihre Unterkunft zurückgekehrt und eingeschlafen.
Aber in dieser Nacht hatte sie zum ersten Mal seit beinahe vier Jahren eine Vision gehabt. Mirk hatte sie auf den harten, schmutzigen Boden einer billigen, trübe beleuchteten Wohnung gedrückt und sie vergewaltigt. Sie erwachte schaudernd und nass geschwitzt, und sie weinte darüber, dass sie so dumm gewesen war, dem Bandenführer zu vertrauen. Unsicher, was sie nun tun sollte, aber auch voller Angst, Misstrauen zu erregen, wenn sie nicht zum vereinbarten Zeitpunkt auftauchte, tat Melyor schließlich das Einzige, was sie tun konnte: Sie hielt die Verabredung ein, versteckte aber einen Dolch in ihrem Stiefel. Als Mirk sie angriff, genau auf die Art, wie ihre Vision es gezeigt hatte, überraschte sie ihn, indem sie sich wegdrehte, bevor er sie überwältigen konnte, und ihm den Dolch ins Herz stieß. »Wie ...« Er hatte die Augen weit aufgerissen, als er zu Boden sank.
»Wie ich wusste, dass du mich vergewaltigen wolltest?«, entgegnete sie und trat ihm in die Seite. »Ich
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