Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Tempel erfuhr man im Unterricht von der Magie, und trotz allem, was mit ihren Eltern und dem Dorf geschehen war - oder vielleicht sogar genau deshalb -, war sie fasziniert von den Geschichten über den Ersten Magier. Sie hatte sogar angefangen, die langweilige Geschichte seines Lebens zu lesen, die er selbst verfasst hatte. Sie war noch nicht fertig damit, aber sie hatte den Teil über seine erste Bindung schon gelesen. Also wusste sie, dass es für das, was da geschehen war, nur eine einzige Erklärung gab, besonders nach den Visionen, die sie im vergangenen Jahr gehabt hatte.
Im letzten Herbst hatte sie von zuckenden Blitzen und heftigen Regengüssen geträumt, und am nächsten Tag hatte ein schweres Gewitter, wie es zu dieser Jahreszeit sehr ungewöhnlich war, Feuer im Wald verursacht und den Larian über die Ufer treten lassen. Zu Beginn des Frühlings hatte sie von seltsamem Essen und exotischen Stoffen geträumt, und am nächsten Nachmittag war ein Hausierer im Tempel erschienen, der feine Stoffe und Delikatessen aus Abborij brachte. Und vor kurzem hatte sie von dem Angriff auf Kaera geträumt, wie sie es oft tat. Aber diesmal hatte sie gesehen, wie sie die Männer abwehrte, die ihr Zuhause angriffen. Sie hatte einen ganz ähnlichen Umhang getragen wie die Ordensmitglieder, obwohl er blau gewesen war und nicht grün. Ein riesiger brauner Vogel hatte auf ihrer Schulter gesessen, und strahlendes goldenes Feuer war aus dem Stab, den sie in der Hand hielt, auf die Männer zugerast und hatte ihre seltsamen Vögel zerstört.
Nach diesem Traum hatte Cailin Irrian schließlich von den beiden ersten Visionen berichtet, und die Schülerin hatte die Söhne und Töchter der Götter informiert. Seitdem hatte niemand mit ihr über ihre Visionen gesprochen; niemand hatte ihr gesagt, was sie zu bedeuten hatten. Aber das war auch nicht notwendig gewesen. Die dritte Vision, die sie für sich behalten hatte, hatte es nur zu deutlich gemacht.
Schon der Gedanke daran machte ihr Angst und bewirkte, dass ihr übel wurde. Sie hasste sie. Sie hasste sie alle. Und dennoch würde sie nun wegen dem, was auf der Lichtung geschehen war, zu einer von ihnen werden. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, und kämpfte dagegen an. »Also gut, ich fühle mich wirklich ein bisschen krank«, sagte sie zu Irrian, als der Tempel schon durch die Bäume zu sehen war.
»Ich hatte bereits das Gefühl, dass du nicht ganz ehrlich mit mir warst.« Irrian blieb stehen, hockte sich hin und legte eine Hand auf Cailins Stirn. »Könnte sein, dass du leichtes Fieber hast«, sagte sie, und die Sorgenfalten auf ihrer Stirn wurden ausgeprägter. »Wenn wir wieder im Tempel sind, solltest du lieber auf dein Zimmer gehen. Ich schicke nach einer der Hüterinnen.«
»Gut«, stimmte Cailin zu.
Sie erreichten dem Tempel einige Minuten später, und Cailin eilte in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich, warf sich aufs Bett und fing an zu weinen. Wie konnten die Götter ihr das antun? Was für ein grausamer Scherz war das? Wegen der Söhne und Töchter Amarids waren ihre Eltern tot. Alle in Kaera waren tot. Bis auf sie, selbstverständlich. Irgendwie war sie verschont geblieben. In den Jahren seitdem war sie ein lebendes Symbol für das Versagen des Ordens beim Schutz des Landes geworden, ein Symbol der gebrochenen Versprechen und des Verrats der Magier. Und nun war sie selbst eine von ihnen.
Kurz darauf klopfte jemand an die Tür. Cailin setzte sich rasch auf und wischte sich die Tränen weg.
»Herein«, rief sie und zuckte innerlich zusammen, als sie merkte, wie jämmerlich sie sich anhörte.
Die Tür ging auf und Zira, eine der jüngeren Töchter der Götter, streckte den Kopf herein.
»Hallo, Cailin«, sagte die kleine zierliche Frau voller Mitgefühl. »Ich höre, es geht dir nicht gut.«
Cailin spürte, wie sie errötete. »Ich bin ... es ist schon gut«, stotterte sie. »Irrian fürchtete, ich könnte Fieber haben.«
Zira hatte einen Becher mit dampfender Flüssigkeit dabei. »Ich hab dir Tee gebracht. Darf ich hereinkommen?«
Als Cailin nickte, schloss Zira die Tür hinter sich und setzte sich neben Cailin aufs Bett. Sie reichte dem Mädchen den Tee und legte dann den Handrücken an Cailins Wange. »Kommt mir ein bisschen warm vor«, bestätigte sie. »Wie fühlst du dich?«
Cailin setzte dazu an zu sprechen, aber dann weinte sie wieder, und ihr ganzer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Zira legte ihr den Arm um die Schultern
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