Die Chroniken von Amarid 04 - Die Retterin des Landes
weit im Norden des Landes kam, und Orris hatte erwartet, dass Gwilym froh sein würde, das Nal verlassen zu können und sich wieder in einem Gelände zu befinden, mit dem er vertraut war. Aber wenn man sich die Haltung des kahlköpfigen Mannes ansah, schien das Gegenteil der Fall zu sein. Es schien ihm Schmerz zu bereiten, sich im Gebirge aufzuhalten, und Orris wurde neugierig auf das Leben, das Gwilym zurückgelassen hatte.
»Hast du Familie?«, fragte er ihn daher. »Eine Frau? Kinder?«
Gwilym starrte ihn kurz an und wandte sich dann Melyor zu, die die Frage übersetzte. Dann schaute der Steinträger wieder Orris an, nickte und sagte leise etwas. Orris glaubte, eine einzelne Träne in Gwilyms Augenwinkel zu erkennen, die im Feuerlicht glitzerte.
»Zwei Kinder«, sagte Melyor, die den Steinträger weiterhin anschaute. »Und natürlich eine Frau.« Sie fragte Gwilym etwas, und er nickte abermals. »Das dachte ich mir«, erklärte sie und wandte sich Orris zu. »Dass er Steinträger ist«, sagte sie, »macht ihn gleichzeitig auch zum Oberhaupt seiner Gemeinde. Er hat viel aufgegeben, um hierher kommen zu können.«
Orris schüttelte den Kopf. »Warum bist du von dort weggegangen?«, fragte er Gwilym.
Der Magier wartete, während Melyor die Frage weitergab und dann der Antwort des Steinträgers lauschte. »Ein Traum hat ihn hierher gebracht«, sagte sie schließlich. »Er hat von dir geträumt.«
Orris starrte erst sie und dann Gwilym an. »Wie bitte?« Sie lächelte, und eine gewisse Traurigkeit lag in ihrem Blick. »Wir Gildriiten haben auch ein wenig Macht. Wir nennen es den Blick.«
Orris nickte. »Ja, Magier haben es ebenfalls.«
»Das dachte ich mir schon«, sagte sie rätselhaft. »Nun, Gwilym hatte eine Vision, in der er sah, wie du in Bragor-Nal von den Männern angegriffen wurdest, die ich geschickt habe, und er kam nach Bragor-Nal, um dir das Leben zu retten.«
»Aber warum?«
Wieder lauschte Orris, während Melyor und Gwilym längere Zeit miteinander sprachen. Er begann, einiges von dem zu verstehen, was er hörte. Nicht viel, aber es gab Ähnlichkeiten zwischen der Sprache von Lon-Ser und seiner eigenen, was, wenn man ihre gemeinsame Geschichte bedachte, nicht überraschend war. Er erkannte die Lonmir-Wörter für Stein, Land und Tod, und er glaubte etwas zu hören, das ähnlich wie das Wort »Leben« in seiner eigenen Sprache klang. Aber er konnte nicht wirklich verstehen, was Gwilym sagte.
Als der Steinträger schließlich fertig war, holte Melyor tief Luft und wandte sich wieder an Orris. »Deine Frage ist nicht leicht zu beantworten«, begann sie in ihrem seltsamen Akzent. »Es wäre leichter, wenn du mehr über die Geschichte von Lon-Ser wüsstest.« Sie runzelte die Stirn. »Ich bin nicht sicher, ob ich es dir klar machen kann. Wir haben den Blick, und deshalb wurden Leute wie wir in der Vergangenheit hoch geschätzt, und die Anführer der Nals glaubten, unsere Kenntnis der Zukunft könnte ihnen Reichtum und Macht bringen. Aber man hat uns auch gefürchtet, und diese Furcht hat zu Unterdrückung und Verfolgung geführt. Als die Kriege, die zwischen den einzelnen Nals geführt wurden, blutiger wurden, sind viele Gildriiten aus den Nals in die Berge in den abgelegensten Teilen unseres Landes geflohen, ins Dhaalmar-Gebirge. Jene, die in den Nals blieben, waren gezwungen, ihre Abstammung und ihre Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, zu verbergen, damit sie nicht eingesperrt und hingerichtet wurden. Gwilym sagt, als er von dir träumte, sah er mehr als einen Zauberer, der Hilfe braucht. Er sah einen Mann mit der Macht, Lon-Ser für immer zu verändern, einen Mann, der der Verfolgung der Gildriiten ein Ende setzen könnte.« »Aber ich bin ganz allein«, widersprach Orris. »Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mein eigenes Land davor schützen kann, noch einmal angegriffen zu werden. Wie soll ich da irgendetwas in Lon-Ser verändern können?«
Melyor zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht«, sagte sie leise. »Aber wenn du tust, weshalb du hergekommen bist, wird der Rest vielleicht von selbst geschehen.«
Orris starrte sie an und dachte über ihre Worte nach. Schließlich nickte er. »Mag sein.« Er wies mit dem Kinn auf Gwilym. »Frag ihn, wo er seinen Stein herhat.«
»Das kann ich dir selbst sagen«, erwiderte Melyor und lächelte. »Die Legende besagt, dass Gildri und seine Anhänger Stäbe, Vögel und Umhänge hatten, genau wie du. Die Vögel sind selbstverständlich gestorben, und
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