Die Chroniken von Amarid 04 - Die Retterin des Landes
braun, und ihr Haar war so blond, dass es beinahe weiß wirkte. Sie war auf eine unauffällige Weise hübsch, und sie sah aus wie eine freundliche Tante oder eine Großmutter, aber ganz bestimmt nicht wie die Herrscherin eines mächtigen Nal. Shivohn sah ihre Besucher eine Zeit lang forschend an, dann warf sie der Legatin und den Gardisten einen Blick zu. »Du kannst gehen, Wiercia«, sagte sie mit tiefer, ein wenig heiserer Stimme. »Und nimm die Männer mit.«
Die Legatin verbeugte sich. »Jawohl.« Sie gab den Wachen ein Zeichen zu gehen, dann folgte sie ihnen und ließ die drei Besucher mit Shivohn allein.
Eine Zeit lang herrschte Schweigen. Shivohn blieb sitzen, sah von einem ihrer Gäste zum anderen und betrachtete sie immer noch mit derselben Gelassenheit.
»Sag ihr, wer wir sind«, forderte Orris schließlich im Flüsterton. »Sag ihr, dass wir hergekommen sind, um sie um Hilfe zu bitten.«
Shivohn sah Orris einen Moment an, aber dann wandte sie sich erwartungsvoll an Melyor.
Melyor räusperte sich und ahmte dann etwas ungeschickt Wiercias Verbeugung nach. »Wir grüßen dich, Herrscherin. Es ist uns eine Ehre, dass du uns empfängst. Mein Freund hat mich gebeten ...«
»Ich weiß, was er gesagt hat«, unterbrach Shivohn sie in Lonmir.
Melyor riss erstaunt die Augen auf. »Du verstehst ihre Sprache?«, flüsterte sie verblüfft.
»Ja. Ich spreche sie auch. Das scheint dich zu überraschen.« Melyor zuckte die Achseln. »Nun ... irgendwie schon.« »Mein zweiter Mann war ein Kaufmann aus Abborij«, erklärte die Herrscherin und fuhr zerstreut mit einem dicklichen Finger über die Armlehne ihres Stuhls. »Er hat mir Tobynmir und Abborij beigebracht. Und außerdem«, fuhr sie fort, und ihr Blick bohrte sich geradezu in Melyors Augen, »bin ich eine Herrscherin; es steht mir an, über solche Kenntnisse zu verfugen. Es kommt mir jedenfalls nicht ungewöhnlicher vor, als wenn ein Nal-Lord Tobynmir spricht. Denkst du nicht auch, Melyor? Vielleicht kannst du mir verraten, wo du es gelernt hast?«
Melyor setzte an, etwas zu sagen, aber sie konnte nicht. Ihre Lippen waren trocken, ihr Herz raste. Wie konnte sie antworten? Es war verblüffend, wie rasch die Herrscherin sie in die Defensive gedrängt hatte, ohne auch nur vom Stuhl aufzustehen oder die Stimme zu heben.
Die Herrscherin lächelte kühl. »Aber diese Angelegenheiten können warten.« Sie wandte sich an Orris. »Dein Vogel ist wunderschön«, sagte sie in makellosem Tobynmir. »Wie heißt sie?«
Man konnte Orris nicht ansehen, ob er von der Fähigkeit der Herrscherin, seine Sprache zu sprechen, überrascht war. »Sie heißt Anizir.«
»Und du?«
»Ich bin Falkenmagier Orris.«
Die Herrscherin sah ihn einen Augenblick lang von oben bis unten an, ganz ähnlich, wie ein Kämpfer einen Gegner abschätzt, bevor er die Klinge zieht. »Warum bist du hier, Orris?«, wollte sie wissen.
Der Zauberer lächelte dünn. »Ich denke, das weißt du.« Shivohn nickte. »Ah ja. Der Brief eurer Eulenweisen. Du hast uns nicht geglaubt, als wir erklärten, dass wir nichts von den Ereignissen wissen, die sie beschrieben hat?« »Nein«, erwiderte er offen. »Diese Männer haben Waffen benutzt, die wir zuvor in unserem Land noch nie gesehen hatten. Sie hatten künstliche Vögel dabei, wie sie kein Handwerker in Tobyn-Ser je hätte herstellen können. Woher sonst sollten sie kommen, wenn nicht aus Lon-Ser?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte die Herrscherin ebenso offen. »Aber das ist kein Beweis, dass sie von hier gekommen sind.«
»Wir haben einen der Fremden gefangen genommen«, fuhr Orris fort. »Er kam aus Lon-Ser. Er hat uns viel über euer Land erzählt. Ich habe ihn mit hierher gebracht, aber er ist geflohen, sobald wir in Bragor-Nal waren.«
»Wie bitte?«, warf Melyor ein. »Das hast du bislang ja gar nicht erwähnt!«
Orris grinste sie auf diese bestimmte Weise an, die sie immer wütend machte, aber dann wandte er sich wieder der Herrscherin zu.
»Die Eulenweise berichtete in ihrem Brief, dass ihr alle Eindringlinge bis auf einen getötet habt«, sagte Shivohn ernst. »Ich wusste nicht, dass ihr einen Gefangenen gemacht hattet, und ganz bestimmt nicht, dass er aus Lon-Ser stammte.« Sie hielt kurz inne. »Dennoch, auch das ist kein Beweis, dass jemand aus unserem Land ihn geschickt hat. Viele unserer Leute kämpfen als Söldner. Fragt nur die Potentaten von Abborij!«
»Mein Oberlord hat ihn geschickt«, hörte Melyor sich selbst in Lonmir sagen.
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