Die Chroniken von Amarid 04 - Die Retterin des Landes
die Flure entlang der vollen Zellen zu umgehen.
Sie kamen in eine große unterirdische Kammer, wo zwei schwarze Transporter auf sie warteten. Einer von ihnen war lang und elegant und eindeutig der Transporter der Legatin. Der andere war groß genug für die sechs Gardisten und Melyor, Gwilym und Orris. Sobald sie alle saßen, fuhren die Transporter auf die Straßen des Nal hinaus und dann auf die schimmernde weiße Höhe von Oerella-Nal.
Sie fuhren einige Zeit auf der Höhe, immer nach Norden und weg vom Median-Gebirge. Von dieser erhöhten Straße aus erinnerte der Anblick des Nal Melyor sehr an ihr Zuhause. Die Gebäude schimmerten im Sonnenlicht heller, aber in vielerlei Hinsicht waren die Blocks hier denen in Bragor-Nal sehr ähnlich. Erst als der Transporter wieder in das Straßengewirr zurückkehrte, erkannte sie, wie sehr sie sich geirrt hatte. Bäume mit frischen grünen Blättern säumten die Hauptstraßen jedes Blocks. Es gab keine Abfallhaufen. Die Fußgängerwege waren mit bunten Fliesen in Blau, Gold und Rot gekachelt. Sie kamen zu einem großen See, dessen tiefblaues Wasser in der Morgensonne
schimmerte, und fuhren weiter an seinem Ufer entlang. Große Bäume warfen Schatten und wechselten sich mit Grasflächen ab, die sich am See entlangzogen, und am Nordufer stand ein riesiger Palast aus schlichtem weißem Marmor.
Melyor sah Orris an, aber der Zauberer hatte die Augen geschlossen, als befände er sich in tiefster Meditation. Also wandte sie sich Gwilym zu und sah, dass der Steinträger aus dem Fenster schaute, obwohl er sich nicht darüber zu freuen schien, was er sah. Er war wieder blass, wie schon zuvor im Gefängnis, und seine Hände zitterten.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Gwilym?«, fragte sie besorgt. Er schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln, aber er schwieg, und schließlich schaute Melyor wieder auf den See hinaus.
Sie kamen nun näher zu dem Palast, der, wie Melyor annahm, die Residenz der Herrscherin war. Trotz der Größe war es ein relativ bescheidenes Gebäude, viel weniger aufwendig als der Goldpalast, in dem der Herrscher von Bragor-Nal residierte. Die weiße Marmorfassade war schmucklos, wenn man von einem schlichten gemeißelten Muster absah, das Türen und große Fenster umgab. Der Palast stand allerdings in einem großen Garten mit einer Unzahl von Pflanzen, die Melyor noch nie zuvor gesehen hatte. Die Transporter benutzten eine halbrunde Einfahrt und blieben schließlich vor dem Haupttor des Palastes stehen. Man befahl Melyor und den anderen, aus dem Fahrzeug auszusteigen, und als sie das taten, wurden sie von einem großen Kontingent von Gardisten empfangen, die alle die scharlachroten Uniformen von Herrscherin Shivohns Sicherheitskräften trugen. Eine Gruppe von sechs Männern führte die Gefangenen in den Palast und in ein riesiges Foyer mit hohen, geschnitzten Decken und Dutzenden von Portraits an den Wänden. Melyor nahm an, dass die Gemälde ehemalige Herrscherinnen zeigten, denn sie trugen alle lange rote Gewänder, die genau zu der Farbe der Uniformen der Sicherheitsleute passten.
Sie warteten einige Zeit in dieser Halle, bis Legatin Wiercia schließlich am anderen Ende erschien und auf Melyor und ihre Begleiter zukam. »Die Herrscherin wird euch jetzt empfangen«, verkündete sie feierlich. Mit wehendem schwarzem Gewand drehte sie sich um und winkte ihnen, ihr zu folgen. »Hier entlang.«
Sie führte sie ein Stück des Wegs zurück, den sie gerade gekommen waren, und durch zwei hohe weiße Türen in einen großen Raum. Die gegenüberliegende Wand dieses Zimmers bestand beinahe vollkommen aus Glas und bot einen hervorragenden Blick auf weitere Gärten und dahinter auf die in der Sonne schimmernden Gebäude von Oerella- Nal. Der Boden bestand aus dunklem Holz mit beinahe gerader Maserung, und an den Seitenwänden hingen kunstvolle Wandteppiche, die schönsten, die Melyor je gesehen hatte. Es gab mehrere Sessel, Sofas und Tische, und in der Mitte, auf einem einfachen Holzstuhl, saß eine Frau in einem scharlachroten Gewand.
Melyor hatte nun schon seit über zehn Jahren Geschichten über Shivohn, Herrscherin von Oerella-Nal, gehört. Angeblich war sie eine Frau mit eisernem Willen und scharfer Intelligenz, eine zähe Verhandlungspartnerin, die keine Geduld für die Dummheit anderer hatte und keine Gnade für ihre Feinde kannte. Und nun saß sie vor ihnen, eine kleine, untersetzte Frau mit einem runden Gesicht und freundlicher Miene. Ihre Augen waren groß und
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