Die Chroniken von Araluen - Die Schwertkämpfer von Nihon-Ja
Nimatsus Burg.
Es war, wie Evanlyn bereits vermutet hatte, tatsächlich ein Schneetiger, allerdings ein unglaublich großer. Als der kleine Zug sich durch die Hauptstraße des Ortes bewegte, kamen die Hasanu aus ihren Häusern. Ehrfürchtig bestaunten sie die tote Raubkatze, deren weißgraues Fell mit Blut und Schmutz verschmiert war. Die Verletzungen, die von Evanlyns Schüssen herrührten, waren ebenfalls deutlich zu sehen – das linke Vorderbein war zerschmettert und stand in einem schiefen Winkel ab. Der zersplitterte Unterkiefer wurde nur noch von Sehnen gehalten und der Hals war mit getrocknetem Blut bedeckt. Aber am auffälligsten war der zwei Ellen lange Schlitz am Bauch.
Der Kopf des Tieres holperte über den unebenen Boden, während die beiden Pferde es langsam durch den Ort zogen. Die Augen waren halb geschlossen und glasig. Doch selbst im Tod verdiente das Tier immer noch seinen Namen. Kyofu. Das Grauen.
Die Kunde eilte von Mund zu Mund, und so starrten die Hasanu gemeinsam auf das Biest, das die Gegend in Angst und Schrecken versetzt hatte. Dann blickten sie von seinem riesigen Kadaver zu den beiden Mädchen, die das Tier erlegt hatten. Beide waren blass und abgespannt und litten unter den Nachwirkungen der Furcht und Erschöpfung. Alyss’ Jacke und Hose waren zerrissen und voller Flecken. Den Lederschutz hatte sie bereits entfernt. Der Schild hing über dem Joch des linken Pferdes, und das Tageslicht zeigte, wie sehr die Klauen und Zähne des Kyofu ihm zugesetzt hatten. Oben war es gesplittert und in dem gebogenen Holz befanden sich tiefe Furchen. Die Eisenstreifen wiesen helle Kratzer auf, wo die Klauen sich hineingebohrt hatten.
Als die beiden schlanken Gestalten, die sich neben dem Kyofu und den riesenhaften Hasanu winzig ausnahmen, die Hauptstraße des Ortes entlanggingen, verbeugten sich die Einwohner immer wieder und schienen gar nicht mehr aufhören zu wollen. Die gebeugten Körper und die gesenkten Köpfe erinnerten an ein Weizenfeld, über das der Wind streicht.
»Sollen wir winken?«, sagte Evanlyn halblaut. So gut sie sich in Protokollfragen auskannte – dies war eine Situation, die ihre Lehrer nie vorhergesehen hatten.
»Mach du nur, ich bin zu müde«, erwiderte Alyss. Sie blickte zum Ende der Straße, die hangaufwärts zur Burg führte, wo eine hochgewachsene Gestalt auf sie wartete. Nimatsu. Als sie näher kamen, vollführte er eine besonders tiefe Verbeugung.
Alyss und Evanlyn tauschten Blicke aus, dann taten sie es ihm nach.
»Ariss-san, Ev-an-in-san«, sagte er und richtete sich wieder auf, »Ihr habt meinem Volk einen unschätzbaren Dienst erwiesen.«
Evanlyn nickte und deutete auf den Kadaver. »Nimatsu-san, hier ist das Grauen . Wir haben es vernichtet.«
»Ich sehe es. Ich sehe es«, erwiderte Nimatsu leise. Er trat vor, um das Tier genauer zu betrachten, und besah sich die furchtbaren Verletzungen, die diese schmächtigen Mädchen ihm zugefügt hatten.
»Ihr seid unverletzt?«, fragte er.
Alyss zuckte mit den Schultern. »Mir tut alles weh und ich habe jede Menge blaue Flecken.«
Evanlyn lächelte müde. »Und ich war vor Angst wie von Sinnen. Aber abgesehen davon geht es uns gut. Ihr solltet mal den anderen sehen.« Sie machte eine Pause und fügte dann in gespielter Überraschung hinzu: »Oh … das könnt Ihr ja.«
»Es ist ein Schneetiger«, sagte Nimatsu leise. Er beugte sich über den Tierkadaver und strich mit der Hand über das weiße Fell. »Aber ich habe noch nie ein so großes Exemplar gesehen. Ich dachte, sie wären schon vor Jahren aus dieser Gegend vertrieben worden.«
»Tja, dieser hatte beschlossen, hier zu bleiben«, meinte Alyss.
Nimatsu blickte von dem toten Tier zu Alyss und Evanlyn. In seinem Leben hatte er viele tapfere Taten gesehen. Doch nie zuvor hatte er einen ähnlichen Mut wie bei diesen beiden jungen Mädchen erlebt. Er drehte sich zu den versammelten Hasanu, die schweigend dastanden.
»Volk der Hasanu!«, sagte er laut, damit er möglichst weit über die Straßen zu hören war, wo inzwischen Hunderte von Gesichtern zu ihnen blickten. » Das Grauen ist beendet. Das Untier ist tot!«
Es war, als hätten sie nur auf seine offizielle Bestätigung gewartet. Denn kaum hatte er das gesagt, brach der Jubel los. Alyss und Evanlyn standen verlegen da und wussten gar nicht, wie sie reagieren sollten. Im Grunde sehnten sie sich danach, den Augen der Öffentlichkeit zu entkommen, um sich von der entsetzlichen Nacht zu erholen, die sie
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