Die Chronistin
regte. Sie sei zu alt und ihr Leib zu verbraucht und schlaff, um noch einmal den Bund der Ehe zu schließen, erklärte sie mit großer Entschiedenheit. Sollten doch forthin die jüngeren Schwestern für die Politik des ehrgeizigen normannischen Onkels bürgen, sie aber wolle in ein Kloster eintreten oder in ein Damenstift, auf dass die Ruhe der sie umgebenden Welt ihrer inneren entspräche.
Sie war damit durchgekommen, vielleicht, weil alle heiratsfähigen Männer gegen die Ketzer im Süden kämpften, vielleicht, weil die Zugehörigkeit der Normandie zu Frankreich nicht länger strittig war, vielleicht auch, weil sie sich so unauffällig verhalten hatte, wann immer sie auf die Hürden des Lebens gestoßen war, dass dieses schlichtweg nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.
Fortan waren die Tage so unbeschwert und lautlos wie die Nächte.
Nur heute, in jener Stunde, zwischen Nachtgottesdienst und Morgenlob, da ihr hohes Amt ihr noch ein wenig Schlaf erlaubte, manch andere Schwester aber dem Tagwerk nachgehen musste, verhielt es sich anders. Zunächst schlich sich nur Raunen in ihren tiefen Schlaf, dann Klopfen, schließlich hartnäckiges Schreien. Das allein hätte sie nicht wecken können – wohl aber, was die aufgeregten Stimmen verhießen. Jene fielen sich gegenseitig ins Wort, suchten sich zu übertönen und gerieten solcherart zu einem Chor, der nur einem Ziel galt: eine schreckliche Neuigkeit zu überbringen.
Roesia richtete sich auf. Die Augen hatten sich noch nicht an das Dunkel gewöhnt, jedoch ihre Ohren aus den aufgeregten Stimmen einen Namen herausgehört.
Sophia.
Es war von Sophia die Rede.
Sophia, der alle stets mit Scheu begegnet waren, weil sie sich so unnahbar gegeben hatte. Sophia, die stets zum Tuscheln und Mutmaßen verleitet hatte, weil sie nie bereit gewesen war, über den Inhalt ihrer Chronik zu sprechen, an der sie fortwährend schrieb. Sophia schließlich, der viele trotz allem den allergrößten Respekt entgegengebracht hatten, weil sie jedwede Frage – betraf diese nun einen großen Theologen, eine Stelle aus den Annalen oder eine heilende Rezeptur – ohne Umschweife richtig beantworten konnte.
»Wie kann ein einziger Mensch den Inhalt so vieler Bücher und Schriften im Kopf behalten?«, hatte man sich oft gefragt – und nie hatte es darauf eine rechte Antwort geben wollen, nur andächtiges Schweigen und verwirrtes Schulterzucken.
Roesia fühlte ihr Herz pochen und Schweiß auf ihre Stirn treten und ahnte sogleich, was die Störung verhieß: Man hatte die Verschollene gefunden. Man hatte sie irgendwo als Tote entdeckt.
Ihre Aufregung ließ sich dem beruhigenden Atem nicht unterwerfen. Sie erhob sich, tastete sich im Dunkeln bis zur Türe vor, hoffte, dass sie den anderen würdevoll entgegentreten konnte – sowie man es von ihr gewohnt war und erwartete.
Als sie die Türe zu ihrer Zelle öffnete, wich sie jedoch zurück, nicht vor den Stimmen, aber vor dem Licht der Kerzen, das ihr grell in die Augen leuchtete.
Halbblind, vernahm sie mehr, als ihr zu hören lieb war. Nicht nur von Sophias Tod war hier die Rede. Indessen die einen wild durcheinander sprachen und manche Vermutung anstellten – wer die Chronistin in jene Kammer gesperrt hätte oder ob an ihrem Tod die geheimen Schriften schuld wären, denen sie zuletzt alle Lebenszeit geweiht hatte – , tönte eine Stimme klar und deutlich hervor, um das eigentliche Schrecknis zu benennen:
»Die Krankenschwester hat Sophias Leichnam bereits untersucht«, erklärte sie an Roesia gewandt. »So gut erhalten wie ihre Kleider und Glieder ist der Strick, der ihr um den Hals gelegt und mit dem sie erdrosselt wurde.«
Kapitel II.
Anno Domini 1188 bis 1192
Von den Wänden des Skriptoriums hallte Gemurmel. Unfassbar deuchte die Kopistinnen Mechthilds Vorwurf – unfassbar und auch ein wenig Furcht erregend. Konnte man von dem frechen, vorlauten Mädchen tatsächlich glauben, es stünde mit dem Teufel im Bunde und hätte von jenem eine außergewöhnliche Gabe geschenkt bekommen? War es denn nicht schon früher aufgefallen, weil es alles schneller lernte: das Schreiben und Lesen, das Lateinische und Griechische, die Schriften der heidnischen Philosophen und der Kirchenlehrer?
Bis auf den Tag, da sie beim Mittagessen auswendig aus der Vita des heiligen Eligius zitieren konnte, hatte sich Sophia niemals sonderlich damit hervorgetan. Heute freilich hatte sie sich ganz unbescheiden in den Vordergrund gespielt, das Gebot missachtend,
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