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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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längst nichts mehr – weder die aufgeregten Nonnen, noch die wütende Mechthild. Nach innen war ihr Blick gerichtet, um dort ohne Mühe in den vielen Büchern und Abschriften zu kramen und daraus die Sätze zu ziehen, mit denen sie ihre Rede spann. Sie las aus dem Gedächtnis vor. Sie stützte jedes Wort auf Buchstaben. Erst als sie innehielt, gewahrte sie, dass die Welt aus mehr bestand als dem geschriebenen Wort.
    Noch während sie zitierte, hatten Pater Immediatus, die Mutter Äbtissin und Schwester Irmingard das Skriptorium betreten. Der Hals der Äbtissin war steif wie immer, und der Blick, der Sophia folgte, darum langsam. Umso entsetzter geriet Irmingards Miene. Schon wollte sie vortreten, das vorlaute Mädchen zu schelten.
    Ehe sie es vermochte, setzte der Pater Immediatus nachdenklich zu reden an.
    »Du bist klug und belesen, Mädchen.«
    Sophia wähnte sich größer und größer wachsen. Zu eng und klein schien ihr der Raum, wo sie stand. Die Grenzen ihrer Welt, die aus der Schrift bestanden, waren viel weiter gesteckt.
    »Wie kommt es, dass sie all das weiß?«, lotste Mechthilds Stimme sie freilich schon zurück auf einen schmalen Pfad. »Sie mag ihr Leben im Kloster verbracht haben, doch dieses Leben währt bislang nur zwölf Jahre – wie kann sie in dieser kurzen Zeit alles erlernt haben, was sie eben nannte?«
    Unmerklich schüttelte Schwester Irmingard den Kopf. Sophia sah sie nicht.
    »Du dumme Gans!«, höhnte sie. »Ich begreife und lerne viel schneller, als jemals einer von euch es könnte! Ich muss nicht mühsam wiederholen! Ich spreche nicht nur die Psalmen auswendig und die Evangelien, die wir stets aufs Neue hören – nein, alles, was ich jemals gelesen habe, bleibt in meinem Kopf auf immer. Gebt mir eine Zeile zu sehen, und ich kann sie in alle Ewigkeiten wiederholen! Reicht mir ein Buch, und ich muss es nur einmal lesen, um für immer seinen Inhalt zu kennen! Ich habe ein Talent wie keine von Euch – und es wird mich nicht nur zur dummen Kopistin machen, sondern zu einer großen Gelehrten, vielleicht der größten Gelehrten, die es jemals gab.«
    Die Zornesröte floh aus Mechthilds Gesicht. Ein triumphierendes Lächeln erschien auf ihren bleichen Wangen.
    »Das ist Teufelswerk«, urteilte sie zufrieden. »Das ist Teufelswerk. Und ob deiner Herkunft mag man auch nichts anderes erwarten, als dass du mit Satan im Bunde stehst. So eine wie dich sollte man schnellstens aus dem Kloster jagen, auf dass der Widersacher nicht auch noch nach unseren Seelen zu gieren beginnt und sie vergiftet.«
Anno Domini 1245
Damenstift zu Corbeil
    Der Schlaf von Roesia war gesegnet.
    Selbst wenn sie Schreckliches erlebt (und das war in ihrem fünf Jahrzehnte währenden Leben oft geschehen), jagten sie nächtens keine dunklen Träume oder bedrohlichen Gestalten. Vielmehr konnte sie sich in eine Finsternis flüchten, die ihr gnädig war, still und ereignislos.
    Nein, sie fürchtete die Nacht nicht.
    Unangenehmes wie ihre drei Hochzeiten und die vielen Todesfälle, die ihren Lebensweg säumten, hatte sich zudem stets am helllichten Tag ereignet. In der ersten Hochzeitsnacht hatte die sommerliche Sonne noch durch die Balken geschienen, als sich der scheue Gatte, der mit seinen vierzehn Jahren nur wenig älter war als sie, über Stunden abmühte, in sie einzudringen. Er schwitzte entsetzlich und legte mehrmals Pausen ein, um seinen schnaufenden Atem und aufgeregten Herzschlag zu beruhigen. Sie selbst strafte ihn mit geschlossenen Augen und einem steifen Körper, und während von ihm der Schweiß perlte, blieben ihre Glieder trocken wie die Scham.
    In späteren Ehejahren (derer es nicht viele gab, denn der Gatte wurde ermordet, noch ehe er zwanzig war) fiel es ihm leichter, seinen Samen in sie zu vergießen – sie aber bewahrte sich die Gabe, den Leib sich selbst zu überlassen und sich in ihre Gedanken fortzustehlen: in eine unberührte und einsame Welt, die der nutzlosen Weite von unfruchtbaren Feldern glich.
    Die zwei Ehemänner, die dem ersten folgten (dem einen gab man sie, um die Feindschaft der Normandie mit Frankreich zu bekräftigen, dem zweiten, um die brüchige Unterwerfung zu besiegeln), waren niemals dorthin vorgedrungen – desgleichen nicht ihr Sterben, noch die Geburt ihrer sechs Kinder (zwei von jedem Mann), noch deren Tod, der jeweils rasch auf die Geburt erfolgte.
    Erst als sie zum dritten Mal Witwe geworden war, zeigte sich, dass sich hinter ihrem ausdruckslosen, gleichmütigen Blick etwas

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