Die Chronolithen
überwiegend eine intellektuelle Einsamkeit. Hatte er sich so verstiegen, dass wir ihm nicht mehr folgen konnten, und er bemerkte es, dann ließ er die Unterhaltung im Sande verlaufen. Er war deshalb nicht herablassend – zumindest nicht sehr oft –, nein, man sah ihm an, dass er traurig war, seine Gedanken nicht mit uns teilen zu können.
Es war, glaube ich, genau diese Einsamkeit, die Sue bei ihm befriedigte. Es war ihm egal, dass sie ihre physische Sexualität für kurze Kontakte aufhob, die absolut nichts mit ihrer Arbeit zu tun haben durften. Ich glaube, mit ihr zu fachsimpeln war für Ray wie Sex.
Sue ließ sich kaum blicken. »Genau so war es auch in Cornell«, erklärte ich Morris und Ray. »Für ihre Studenten, meine ich. Sie brachte uns zusammen. Aber die besten Gespräche fanden nach dem Seminar statt, ohne sie.«
»Muss so etwas wie eine Kostümprobe gewesen sein«, philosophierte Morris.
»Für welches Stück? Hierfür? Für die Chronolithen?«
»Davon konnte sie ja damals nichts wissen. Aber habt ihr nicht manchmal auch das Gefühl, als sei euer Leben eine einzige Generalprobe für ein kritisches Ereignis gewesen?«
»Schon möglich. Manchmal.«
»Als hätte sie damals in Cornell das falsche Ensemble gehabt«, sagte Morris, »und als hätte das Skript noch einer Überarbeitung bedurft. Aber Sie müssen gut gewesen sein, Scott.« Er lächelte. »Die endgültige Fassung ist Ihr Werk.«
»Und wo ist das kritische Ereignis?«, fragte ich. »Die Sache in Jerusalem?«
»Die Sache in Jerusalem… oder irgendwas danach.«
Sue und ich konnten erst unter vier Augen reden, als wir hoch oben über dem Atlantik waren. Sie winkte mich nach hinten in die verwaiste Economyklasse und sagte: »Tut mir Leid, dass ich dich außen vor gelassen habe, Scotty. Und das mit deinem Dad tut mir auch Leid. Ich dachte, das wird ein Acht-Stunden-Job für dich und kein…«
»Hausarrest?«, sprang ich bei.
»Richtig, Hausarrest. Was anderes ist es doch nicht. Und nicht bloß für dich. Mir ergeht es genauso. Man will uns zusammenhalten und rund um die Uhr observieren.«
Sue hatte sich einen Schnupfen geholt und bekämpfte ihn so entschieden, wie sie alle Widrigkeiten bekämpfte. Sie saß da, die Hände im Schoß, und zwirbelte mitten in einem Sonnenstrahl an ihrem Taschentuch, so offenkundig zerknirscht und so unerschütterlich wie Mahatma Gandhi. Am entgegengesetzten Ende teilte ein El-Al-Steward Kunststoffbehältnisse mit Rührei und Toast aus. Ich sagte: »Warum ich, Sue? Niemand will mir diese Frage beantworten. Du hättest dir einen weiß Gott besseren Programmierer ins Boot holen können. Ich war in Chumphon, ja, aber das erklärt gar nichts.«
»Stell dein Licht nicht untern Scheffel«, sagte sie. »Aber ich weiß, was du meinst. Die Überwachung durchs FBI, die Agenten im Haus deines Vaters. Scotty, vor ein paar Jahren hab ich einen Fehler gemacht; ich wollte einen Aufsatz publizieren, der sich mit einem Phänomen befasste, das ich ›Tau-Turbulenz‹ nannte. Ein paar einflussreiche Leute haben ihn gelesen.«
Von einer Antwort, die sich in abstrakte Theorien verstieg, versprach ich mir überhaupt nichts. Ich wartete stirnrunzelnd, derweil sie sich lautstark schnäuzte.
»Entschuldige«, sagte sie. »In dem Aufsatz ging es um Kausalität, man könnte sagen, um Kausalität im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen temporaler Symmetrie und Chronolithen. Hauptsächlich Mathematik, und das meiste davon befasste sich mit ein paar strittigen Aspekten des Quantenverhaltens. Aber ich habe auch darüber spekuliert, wie die Chronolithen unsere herkömmliche Auffassung von Ursache und Wirkung im makroskopischen Bereich aufmischen könnten. Im Prinzip habe ich lediglich gesagt, dass in einem lokalisierten Tau-Ereignis – sagen wir, dem Erzeugen eines Chronolithen – die Wirkung offenbar der Ursache vorausgeht; nun erzeugt so ein Ereignis aber auch so etwas wie einen fraktalen Raum, in dem die wesentlichen Verbindungen zwischen den Ereignissen nicht determinierend, sondern korrelierend wirken.«
»Und was bitte soll das heißen?«
»Stell dir einen Chronolithen als lokales Ereignis in der Raumzeit vor. Es gibt ein Interface, einen Grenzbereich zwischen dem konventionellen Zeitfluss und der Negativ-Tau-Anomalie. Die Zukunft kommuniziert mit der Gegenwart, aber so einfach ist das nicht. Es gibt kleine Wellen, Wirbel und Strömungen. Die Zukunft beeinflusst die Vergangenheit und diese wiederum die Zukunft. Kannst du
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