Die Chronolithen
mitkriegst, wie dich die eigene Mutter auf dem Sterbebett verflucht? Wo liegt da der Sinn?«
»Ich habe sie auch geliebt.«
»Ein Kinderspiel für dich. Vielleicht habe ich sie geliebt, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht mehr. Aber ich war bei ihr, Scotty. Die ganze Zeit. Ich war nicht unbedingt nett zur ihr. Aber ich war bei ihr.«
Ich ging zur Tür. Er kam mir ein paar Schritte hinterher, dann blieb er stehen, außer Atem.
»Ich wollte immer, dass du das weißt«, sagte er.
ACHT
Im Flughafen Ben Gurion ging es chaotisch zu, er war überfüllt mit fliehenden Touristen. Die landende El-Al-Maschine – mit vier Stunden Verspätung auf Grund der Wetterverhältnisse und mit dreitägiger »diplomatischer« Verzögerung, über die Sue sich ausschwieg – war nahezu leer gewesen. Beim Abflug würde sie allerdings restlos ausgelastet sein. Die Evakuierung von Jerusalem war in vollem Gange.
Ich verließ die Maschine inmitten einer Kerngruppe aus Sue Chopra, Ray Mosely und Morris Torrance, umgeben von einem Kordon aus FBI-Agenten mit Sichtverstärkern vor den Augen und verdeckten Waffen. Am Fuß der Rampe erwarteten uns fünf IDF-Rekruten in Jeans und weißem T-Shirt, die uns mit geschulterten Uzis eskortierten. [xx] Wir wurden rasch durch den israelischen Zoll und aus dem Flughafen zu einem Gefährt geschleust, das wie ein Scheruti aussah, ein privates Großtaxi, das man für diesen Ausnahmezustand requiriert hatte. Sue schlitterte in den Sitz neben mir, sie war noch benommen von der Anreise. Morris und Ray kletterten hinter uns in den Wagen, und wir fuhren mit schnurrendem Antrieb los.
Monotoner Regen zog einen Schmierfilm über Highway One. Die lange Kette von Autos, die Richtung Tel Aviv kroch, glitzerte traurig unter fliegenden Wolken, nur die Straßen nach Jerusalem lagen wie ausgestorben. Voraus verkündeten riesige Verkehrsdisplays die Evakuierung. Hinter uns zeigten sie die einzelnen Evakuierungsrouten an.
»Macht ein bisschen nervös«, sagte Sue, »irgendwo hinzugehen, wo keiner bleiben will.«
Der Rekrut der Defense Force, der ganz hinten saß – er sah aus wie ein Teenager –, schnaubte respektlos.
Morris sagte: »Hier ist man ziemlich skeptisch. Und sauer. Die Likkudpartei könnte die nächste Wahl verlieren.«
»Aber nur, wenn nichts passiert«, sagte Sue.
»Wie stehen die Chancen?«
»Eins zu einer Million.«
Der junge Israeli schnaubte wieder.
Eine Regenbö prasselte gegen den Scheruti. Januar, Februar ist Regenzeit in Israel. Ich blickte aus dem Fenster und sah einen windgebeutelten Olivenhain. Meine Gedanken kreisten immer noch um das, was Sue mir im Flugzeug erzählt hatte.
Nach meinem Abstecher ins Elternhaus hatte sie sich tagelang rar gemacht und die diplomatischen Schwierigkeiten heruntergespielt, die uns bis zur vorletzten Minute in Baltimore hielten.
Ich nutzte die Woche, um den Code zu überarbeiten, und verbrachte ein paar Abende mit Morris und Ray – an der Theke, versteht sich.
Die Gesellschaft der beiden war erfreulicher, als ich erwartet hatte. Ich war ausgesprochen sauer auf Morris, weil er mir bis zu meinem Elternhaus nachspioniert hatte… doch Morris Torrance gehörte zu den Männern, die Leutseligkeit zu einer Kunstform erheben. Oder instrumentalisieren. Ärger prallte an ihm ab wie die Kugel an Supermans Brust. Er war nicht dogmatisch, was die Chronolithen anging, favorisierte keine Ansicht über die Bedeutung Kuins, aber sein Interesse war unverkennbar groß. Und das hieß, wir konnten mit ihm albern und Unsinn reden: Ideen loslassen, manche haarsträubend, ohne Angst, in irgendwelche religiösen oder politischen Fettnäpfchen zu treten. Oder tat er nur so? Immerhin vertrat er das FBI. Höchstwahrscheinlich landete alles, was wir sagten, in einem Aktenordner. Sein Talent bestand darin, uns darüber hinwegzutäuschen.
In seiner Gegenwart wurde sogar Ray Mosely mitteilsam. Ich hatte Ray als einen aufgeweckten, aber kontaktarmen Typen eingestuft, dessen Sexualradar hoffnungslos und anmaßend auf Sue fixiert war. Da war sicher etwas dran. Doch wenn er sich entspannte, offenbarte er eine Leidenschaft für American League-Baseball, die ihn mir sympathisch machte. Ray mochte das erweiterte Team aus seiner Heimatstadt Tucson und brachte es fertig, mit einigen Bemerkungen über die Orioles einen Burschen am Nachbartisch zu nerven. Wovon er keinen Deut abrückte, als er zur Rede gestellt wurde. Ray war kein Feigling. Er war einsam, ja, aber das war
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