Die Chronolithen
richtig verstand, dann gehörten die Ereignisse, die von bereits existierenden Chronolithen bekundet wurden, zu denen, die auf die eine oder andere Weise sein mussten. Es gab keine strahlende alternative Zukunft, in der wir Kuin noch vor seinen Eroberungen aufhalten und die Chronolithen zu harmlosen unabhängigen Paradoxa machen konnten. Kuin würde Chumphon, Thailand, Vietnam und Südostasien erobern; die Zeit mochte flüssig sein, doch die Monumente selbst waren unabdingbar und elementar.
Warum also nicht verzweifeln? Sue würde vermutlich antworten, die Schlacht sei noch nicht geschlagen. Ein Großteil der zivilisierten Welt war noch frei von Chronolithen, was nahelegte, dass Kuins Eroberungszüge ein schrittweiser Prozess mit Erfolgen und Rückschlägen war. Es gab noch keinen Chronolithen auf nordamerikanischem Boden. Vielleicht würde es hier ja nie einen geben, wenn wir das Richtige taten. Was immer das war.
Sue hatte mir die Idee eines negativen Feedback eröffnet. Wenn das, was Kuin tat, so etwas wie ein positives Feedback erzeugte – ein Signal, das durch Zeit und menschliche Erwartung stabilisiert und verstärkt wurde –, dann lag die Lösung vielleicht im Gegenteil. Ein Chronolith, der erschien und anschließend zerstört wurde, würde den Prozess in Frage stellen; der wuchernde Eindruck von Kuins Unbesiegbarkeit wäre, wenn nicht zerschlagen, so doch geschwächt.
Wenn er die halbe Erde übernahm, dann wenigstens nicht unsere Hälfte. Daran glaubte Sue Chopra. Hoffentlich behielt sie Recht. Ich war bereit, mich nach dieser Hypothese zu richten.
Trotz meiner Skepsis.
Tja, da war er nun: Hitch Paley, der den Fuß aus einem zerbeulten Sony-Kompaktauto (das doch eigentlich ein Motorrad hätte sein müssen) auf den Parkplatzasphalt setzte. Wir waren für neun Uhr früh verabredet gewesen. Er hatte sich fünfzehn Minuten verspätet. Oder zehn Jahre, wenn man so will.
Er hatte sich kaum verändert. Ich wartete ein Dutzend Meter entfernt unter der Markise des Motelrestaurants und erkannte ihn auf Anhieb. Ich freute und fürchtete mich.
Er trug einen Vollbart und eine schlammgrüne Lederjacke. Er hatte ein bisschen zugenommen, was der breiten Nase, den hohen Wangenknochen und der Neandertalböschung des Schädels zugute kam. Er erblickte mich, kam säbelbeinig über die sonnige Distanz gestapft und streckte seine riesige Rechte aus.
»Hi, Kumpel«, sagte er. »Hast du das Paket, das du abholen solltest?«
Ich nuschelte irgendwas über das Paket; er grinste, schlug mir in den Rücken und sagte: »Ich verscheißere dich bloß, Scotty; wir reden später darüber.« Wir gingen ins Restaurant und nahmen eine Nische in Beschlag.
Natürlich hatte Sue Chopra über ihn Bescheid gewusst. Meine ganzen Anstrengungen – ihn beispielsweise beim Lügendetektortest außen vorzulassen – waren leicht zu durchschauen gewesen. Hitch gehörte zu Sues sogenannten Primär-Beobachtern und musste von Anfang an Bestandteil ihres Puzzle-Projekts gewesen sein. Hitch war tief in der Tau-Turbulenz gewesen, genauso tief wie ich.
Außerdem hatte ich angenommen, Hitch sei unauffindbar, aber da er nicht wusste, wie eingehend Augenzeugen unter die Lupe genommen wurden, hatte er sich wahrscheinlich ein bisschen zu lange in Chumphon aufgehalten – jedenfalls lange genug, um seine Internet-Signatur an das FBI zu verraten oder sich einen Positionssender einzuhandeln. Wie auch immer, man hatte ihn gefunden.
Man hatte ihn gefunden, und Sue hatte ihn vor die Alternative unverzüglicher Arrest oder Job gestellt. Hitch entschied sich – na, wofür wohl?
»Es ist kein richtiger Bürojob«, sagte er. »Das Geld stimmt, ich komme viel herum, keine Haken, keine Ösen. Angeblich ein sauberes Strafregister am Ende, obwohl kein Ende in Sicht ist. Zuerst haben sie mich rund um den Pazifik geschickt, ich sollte Gerüchte über Kuin sammeln, ohne dass dabei etwas Konkretes herauskam. Aber ich war beschäftigt, Scotty. Die Areale der Chronolithen auskundschaften, du weißt ja, in Ankara, Istanbul, hier und da ein paar inoffizielle Dinge erledigen, mit Kuinisten reden – wie neulich mit unseren Copperheads und Hadschisten.«
»Du bist ein Spitzel?«
Er zog eine säuerliche Miene. »Ja, ich bin ein Spitzel. Ich trinke Martinis und spiele Bakkarat.«
»Aber du weißt etwas über die Hadsch-Sache.«
»Ich weiß mehr über die ›Hadsch-Sache‹ als die allermeisten. Ich war mitten drin. Und ich werde tun, was ich kann, um dir zu
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