Die Chronolithen
derweil ich versuchte, nicht an den Mann auf der anderen Straßenseite zu denken. Ich ertappte mich dabei, wie ich Kait beobachtete, die unauffällig David beobachtete. Ich war stolz auf Kait. Sie hatte es nicht einfach gehabt (das ging allen Zeitgenossen der Chronolithen so), doch sie hatte im Laufe der Zeit eine Würde gewonnen, die mitunter wie ein inneres Licht durch ihre Haut zu brechen schien. Es war das Wunder unserer kurzen Zweisamkeit, dass Janice und ich nichtsahnend diese kraftvolle menschliche Seele freigesetzt hatten. Wir hatten – ohne unser Zutun – Güte geschaffen.
Kait und David brauchten aber ihre letzten Stunden für sich. Ich bat Ashlee, sie heimzufahren. Ash bedachte mich mit einem scharfen, neugierigen Blick, willigte aber ein.
Ich gab David die Hand und wünschte ihm alles Gute. Ich schloss Kait in die Arme. Und als die drei weg waren, ging ich ins Schlafzimmer, holte oben aus dem Wäscheschrank die Pistole und entsicherte sie.
Ich habe wohl bereits erwähnt, dass in den frühen Dekaden dieses Jahrhunderts, in denen ich aufgewachsen bin, Waffen strikt abgelehnt wurden. (Besagtes Jahrhundert schwebt, während ich diese Worte schreibe, am Rand seines letzten Viertels… doch ich will mich nicht selbst überholen.)
Während der Unruhen waren Handfeuerwaffen wieder in Mode gekommen. Die meine ging mir gegen den Strich – nebenbei kam ich mir wie ein Pharisäer vor –, doch ich war zu der Überzeugung gekommen, dass es nur vernünftig war, eine zu besitzen. Also hatte ich die erforderlichen Kurse absolviert, alle Formulare ausgefüllt, den Waffenbesitz und mein Genom bei ATF [xxxi] registrieren lassen und mir eine kleinkalibrige Handfeuerwaffe besorgt, die meine (und sonst niemandes) Fingerabdrücke erkannte, wenn ich sie anfasste. Ich besaß die Waffe seit gut drei Jahren und hatte sie bis jetzt nur auf dem Schießplatz abgefeuert.
Ich steckte sie ein, stieg vier Treppen zum Hausflur hinunter und ging über die Straße auf das geparkte Auto zu.
Der Bärtige auf dem Fahrersitz zeigte sich unbefangen. Er lächelte, nein, grinste mir entgegen. Als ich nahe genug war, um mich verständlich zu machen, sagte ich: »Sie müssen mir erklären, was Sie hier machen.«
Sein Grinsen wurde breiter. »Sie erkennen mich wirklich nicht, stimmt’s? Sie haben nicht den leisesten Schimmer.«
Womit ich nicht gerechnet hatte. Die Stimme klang tatsächlich vertraut, aber ich konnte sie nicht zuordnen.
Er streckte die Hand aus dem Seitenfenster. »Ich bin es, Scott – Ray Mosely. Früher war ich fünfzig Pfund schwerer. Der Bart ist neu.«
Ray Mosely. Sue Chopras Vertretung und glücklose Hofschranze.
Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit… das war noch vor Kaits Abenteuer in Portillo gewesen – seit ich mich aus alledem herausgehalten hatte, um ein neues Leben mit Ashlee zu beginnen.
»Ja, zum Kuckuck«, war alles, was ich herausbrachte.
»Sie haben sich kaum verändert«, sagte er. »Gott sei Dank, da war es nicht so schwer, Sie aufzustöbern.«
Ohne die Pfunde sah er fast ausgemergelt aus, daran konnte auch der Bart nichts ändern. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. »Sie hätten mich nicht belauern brauchen, Ray. Sie hätten raufkommen und Hallo sagen können.«
»Na ja, Menschen verändern sich. Wen hätte es gewundert, wenn Sie sich zu einem feuerspeienden Copperhead entwickelt hätten?«
»Arschloch.«
»Nein, es ist wichtig. Wir brauchen nämlich Ihre Hilfe.«
»Wir?«
»Vor allem Sue. Sie braucht fürs Erste eine Bleibe.«
Ich war noch mit der Informationsverarbeitung beschäftigt, als das hintere Seitenfenster herunterschnurrte und Sue höchstpersönlich ihren klobigen erdnussförmigen Kopf aus dem Dunkel ins Laternenlicht steckte.
Sie grinste. »He, Scotty«, sagte sie. »So sieht man sich wieder.«
NEUNZEHN
In den vergangenen sieben Jahren hatte ich Ashlee eine Menge über Sue Chopra und ihre Clique erzählt. Was nicht heißt, dass Ash sich freute, als sie heimkam und gleich zwei von diesen Auserwählten auf ihrer Wohnzimmercouch saßen.
Nach Portillo war mir klar geworden, dass mein Leben mit Ashlee und meine Arbeit für Sue Chopra einander ausschlossen; ich musste mich entscheiden. Sue glaubte weiterhin fest daran, den Vormarsch der Chronolithen nicht nur stoppen, sondern auch umkehren zu können, vorausgesetzt, wir verfügten über die geeignete Technik oder verstanden wenigstens die zugrundeliegende Physik. Was ich ehrlich gesagt bezweifelte. Schon
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