Die Chronolithen
Kirche in Whits Pfarrbezirk, wo die Hälfte der Diakone vermutlich Copperheads waren. Kait hatte das alte Hochzeitskleid von Janice getragen, was ein paar peinliche Erinnerungen weckte. Doch nach heutigen Begriffen war es ein schönes Fest, dessen Feierlichkeit Janice und Ashlee zu Tränen rührte. Kaitlin ging schon nach oben in die Wohnung, während David und ich uns um die Alarmanlage und das Sicherheitssystem des Wagens kümmerten. Ich fragte ihn, wie Kait denn mit seiner bevorstehenden Abreise fertig würde.
»Sie weint manchmal. Gut findet sie es nicht, aber sie wird es schon packen.«
»Und du?«
Er streifte sich die Haare aus den Augen und entblößte ganz kurz das Narbengewebe, das seine Stirn entstellte. Er zuckte die Achseln.
»So weit ganz gut.«
Ich wollte die Steaks braten, aber Ashlee war dagegen. Wir hatten fast das ganze Jahr über keine Steaks mehr in der Pfanne gehabt, und sie wollte sie auf keinen Fall meinen Kochkünsten aussetzen. Ich sollte Zwiebeln schneiden, schlug sie vor, oder besser noch bei Kait und David bleiben und um Himmels willen aus der Küche.
Vielleicht waren die Steaks keine so gute Idee gewesen. Steaks waren ein Festschmaus, doch an diesem Abend gab es nichts zu feiern. Kait und David wechselten bekümmerte Blicke und strengten sich ehrlich an, ihre Ängste zu überspielen, was ihnen nicht einmal im Ansatz gelang. Bis Ash das Essen auftischte, spielten wir alle das Spiel wechselseitiger Selbstverleugnung.
Ashlee und ich hatten das im fünften Stock gelegene Apartment kurz nach unserer Heirat gemietet. Das war im Juli vor sechs Jahren gewesen. Die Stoppard-Verfügung regelte zwar die Mietpreisbindung, aber die Instandhaltung war zögerlich bis schlampig. Die Wasserleitung des Nachbarn über uns war undicht gewesen und drohte unsere Küchenschränke zu ruinieren, bis Ash und ich mit Klempnerwerkzeug und PVC nach oben gingen und die Sache selbst in Ordnung brachten. Doch unsere Wohnzimmerfenster blickten nach Südwesten über die niedrigen Vororte hinweg – Dächer, Solarzellen, Baumwipfel – und heute Abend saß ein großer Mond auf dem Horizont, fast so hell wie eine Leselampe.
»Ich kann das kaum glauben«, sagte Kait hingerissen. »Da oben haben wirklich mal Menschen gelebt.«
Vieles aus der Vergangenheit konnte man kaum mehr glauben. Im vorigen Jahr hatte ich durch eben dieses Fenster mitangesehen, wie sich die aufgegebene Corning-Gentell-Orbitalfabrik ihren Weg durch die Atmosphäre gebrannt und flüssiges Metall versprüht hatte wie eine Wunderkerze. Vor zehn Jahren noch hatte es fünfundsiebzig Menschen im erdnahen Weltraum gegeben. Heute gab es dort niemanden mehr.
Ich stand auf, um die Vorhänge ein bisschen weiter zu öffnen und bemerkte das alte GM-Hybrid-Modell, das vor der vergitterten Tür des Mukerjee-Dollar-Bargain-Store parkte, und das bärtige Profil hinter dem Seitenfenster, beleuchtet vom grellgelben Schein der Straßenlaterne, bevor der Mann in eine andere Richtung blickte.
Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es der Spasti war, der schon meinen Stand in der Nicollet Mall heimgesucht hatte, aber ich hätte einen Eid geschworen, dass er es war.
Ich behelligte nicht die Familie damit, setzte mich wieder hin und setzte ein Lächeln auf – heute Abend war jedes Lächeln aufgesetzt. Der Kaffee machte David ein bisschen gesprächiger: Was ihn wohl nach der Grundausbildung bei den Vereinigten Streitkräften erwarte? Wenn es ihm nicht gelinge, aufs Büro oder zur technischen Wartung zu kommen, dann lande er höchstwahrscheinlich bei der Infanterie in China, sagte er. Was aber weiter nicht schlimm sei, beruhigte er Kait, denn viel länger könnten die Kämpfe nicht mehr dauern. Und wir alle taten so, als würden wir diesen Unsinn glauben.
Wäre Kait schwanger gewesen, wäre David natürlich zurückgestellt worden, aber die Infektion, die sie sich in Portillo zugezogen hatte, hatte ihren Uterus geschädigt und sie unfruchtbar gemacht. Sie und David hätten zwar Kinder haben können, aber eben nur in vitro, und das konnte sich keiner von uns leisten. Soviel ich weiß, hat David das Thema auch nie angesprochen – ich meine, eine Zurückstellung wegen zu erwartendem Nachwuchs. Ich glaube, er hat sie sehr geliebt. Ehen, die geschlossen wurden, um eine Zurückstellung zu erwirken, waren derzeit an der Tagesordnung – ein Grund, der für David und Kaitlin ausschied.
Ashlee goss Kaffee nach und verstand es, die Unterhaltung ein wenig aufzulockern,
Weitere Kostenlose Bücher