Die Chronolithen
einer unausweichlichen kuinistischen Autokratie anzubiedern. [xxxiii]
Und immer noch gab es keinen konkreten Beleg für die Existenz eines Kuin. Dass er existierte, stand fest, vielleicht irgendwo auf dem südchinesischen Festland, aber der größte Teil von Asien war für Medien und jegliche Telekommunikation gesperrt, die Infrastruktur völlig zusammengebrochen und Millionen waren Hunger oder Gewalt zum Opfer gefallen. Das Chaos, in dem Kuin gezeugt worden war, bewahrte ihn vor einem verfrühten Auftritt.
Hielt Kuin denn die Technik zur Erzeugung eines Chronolithen bereits in Händen?
Ja, wahrscheinlich, meinte Sue.
Es war Sonntagmorgen. Ashlee, noch immer nervös, hatte sich aufgemacht, ihre Cousine Alathea in St. Paul zu besuchen. (Alathea schlug sich durch, indem sie von Haus zu Haus ging und dekorative Kupfertöpfe verkaufte. Sonntags Alathea zu besuchen, war von Ashlees Seite Ausdruck familiärer Pietät, denn Alathea war eine unangenehme Person mit exzentrischen religiösen Überzeugungen, in deren Haushalt es drunter und drüber ging.) Ich saß mit Sue am Küchentisch, stocherte im Frühstück herum und genoss wie üblich meinen freien Tag, derweil Ray unterwegs war, um Kaffee aufzutreiben – unseren Vorrat hatten wir nämlich aufgebraucht.
Es gebe, so Sue, weltweit nur eine Hand voll Menschen, die die gegenwärtige Chronolithentheorie gut genug verstünden, um Mittel und Wege zu finden, einen solchen auch zu verwirklichen. Sie gehörte zufällig dazu. Weshalb die Bundesregierung ein so ambivalentes Interesse an ihr gezeigt und ihre Arbeit abwechselnd gefördert und behindert hatte. Aber das war zur Zeit nicht das Problem. Das bestehe, so Sue, darin, dass die zunehmend verzweifelte chinesische Führung vor Jahren ihre eigenen, intensiven Forschungsprogramme in Sachen Tau-Beugungs-Technologie etabliert und diese Einrichtungen vor der internationalen Gemeinschaft abgeschottet habe.
Wieso das ein Problem war?
Weil die marode chinesische Regierung schließlich unter der Last ihrer Insolvenz zusammengebrochen war und eben diese Forschungseinrichtungen vermutlich in die Hände der kuinistischen Rebellen gefallen waren.
»Alles passt zusammen«, sagte sie. »Irgendwo in Asien gibt es einen Kuin, und der verfügt über die erforderliche Chronolithentechnik. Wir sind nur noch ein paar Jahre von der Eroberung Chumphons entfernt, und die erscheint uns völlig plausibel. Wir können nichts daran ändern. Ganz Südostasien ist in den Händen diverser kuinistischer Rebellen – es brauchte eine riesige Armee, um die Berge nördlich von Chumphon zu besetzen, und das hieße nur wieder, Truppen und Nachschub von China einzusetzen, was niemand will. Also fügt sich eins zum anderen – man könnte beinah sagen: unausweichlich.«
»Das sind wohl die Schatten der Dinge, die sein müssen.« [xxxiv]
»Ja.«
»Und wir haben keine Möglichkeit, sie aufzuhalten.«
»Na ja, ich weiß nicht, Scotty. Ich glaube, es gibt vielleicht doch etwas, was ich tun kann.« Sie lächelte schelmisch und traurig zugleich.
Doch das ganze Thema bereitete mir Unbehagen, und ich versuchte, sie abzulenken, indem ich sie fragte, ob sie in letzter Zeit etwas von Hitch Paley gehört habe. (Seit Portillo hatten wir keinen Kontakt mehr gehabt.)
»Wir stehen noch in Verbindung«, sagte sie. »Er kommt in ein, zwei Tagen hier durch.«
Es war vermutlich ein Beweis für Sues angeborenen (wenn auch sperrigen) Charme, dass Ashlee am folgenden Abend neben ihr auf dem Sofa saß und ganz versunken zuhörte, was Sue über die Epoche der Chronolithen zu sagen hatte.
Als ich mich dazusetzte, sagte Ash gerade: »Ich verstehe immer noch nicht, warum es so wichtig sein soll, einen zu zerstören.«
Sue legte sich eine Antwort zurecht und sah dabei so konzentriert aus wie ein religiöser Eiferer.
Der sie vielleicht auch war, auf ihre Weise zumindest. In ihrem Debattierclub (Physikseminar) in Cornell hatte sie den Teilchenzoo (Hadronen, Fermionen und die bunte Gesellschaft von Quarks, aus denen sie bestanden) gerne mit den Hindu-Göttern verglichen – alle wohlverschieden, aber jeder ein Aspekt der einen umfassenden Gottheit.
Sue war nicht im herkömmlichen Sinne religiös und hatte noch nicht einmal ihre Vaterstadt Madras besucht; Sue benutzte dieses Bild eher spielerisch, auflockernd. Doch ich erinnerte mich an ihre Beschreibung des doppelgesichtigen Shiva: Zerstörer und Bringer des Lebens, asketische Jugend und phallusschwingender Schwängerer –
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