Die Chronolithen
gemeinsame Bekannte redeten. Aber ihre Augen leuchteten auf und ihre Stimme gewann an Lautstärke, sobald die Sprache auf den noch dampfenden Freetown-Chronolithen oder den Einmarsch der kuinistischen Streitkräfte in Nigeria kam.
Ich beobachtete sie, während sie redete. Dieser herrlich unbändige Schopf aus Kraushaar bekam graue Spitzen. Wenn sie lächelte, bekam sie fein verzweigte Krähenfüße. Wann immer ihr Temperament Atem holte, wirkte sie mager und ein bisschen abgehärmt.
Und Ray Mosely war sage und schreibe immer noch in sie verliebt. Was er natürlich nicht sägte. Ich glaube fast, Ray erlebte diese Liebe zu Sulamith Chopra als eine ganz private Demütigung, die Außenseitern für immer verborgen blieb. Ich war kein Außenseiter. Und vielleicht hatte er seinen eigenen Frieden damit geschlossen: Unerwiderte Gefühle waren immer noch besser als gar keine. So bärtig, wie er war, inzwischen so dünn, dass man an Magersucht denken konnte, das Haar so weit zurückgewichen wie Erinnerungen an Kindertage, bedachte er Sue immer noch mit jenen rücksichtsvollen Blicken, lächelte, wenn sie lächelte, lachte, wenn sie lachte, holte bei jedem Anflug von Kritik sofort zu ihrer Verteidigung aus.
Und als Sue in der Küche zu Ashlee hinübernickte und sagte: »Ich beneide dich, Scotty. Ich wollte immer schon eine gute Frau an meiner Seite haben«, da gluckste Ray gehorsam. Und zuckte sofort zusammen.
Bevor ich schlafen ging, zog ich die Bettcouch aus und legte zwei Reservedecken zurecht. Es muss für Ray eine Qual gewesen sein, in absoluter und fragloser Abstinenz neben Sue zu liegen und zuzuhören, wie sie atmete. Aber es war die einzige Schlafgelegenheit, die ich ihnen anbieten konnte, wenn man vom Boden absah.
Ich nahm Sue beiseite. »Es tut gut, dich wiederzusehen«, sagte ich. »Ehrlich. Aber wenn du mehr von mir willst als ein paar Nächte auf dem Gästebett, dann lass es mich wissen.«
»Darüber reden wir später«, sagte sie ruhig. »Gute Nacht, Scotty.«
Im Bett war Ash stiller als sonst. Es sei toll, diese Leute kennen zu lernen, die mir einmal so viel bedeutet hätten, sagte sie – sie würden die ganzen Episoden, die ich ihr erzählt hatte, mit Leben erfüllen. Aber sie machten ihr auch Angst.
»Angst?«
»Ja, so wie Kait vor der Einberufung Angst hat. Aus demselben Grund. Scott, die wollen was von dir.«
»Mach dir keine Gedanken.«
»Aber ich muss. Das sind intelligente Leute. Die wären nicht hier, wenn sie nicht davon ausgingen, sie könnten dich zu – was weiß ich – überreden.«
»Ich bin nicht so leicht zu überreden, Ash.«
Sie rollte sich auf ihre Bettseite und seufzte.
In sieben Jahren war noch kein Chronolith auf amerikanischem Boden gelandet, zumindest nicht nördlich der mexikanischen Grenze. Wir blieben Teil eines Archipels der Vernunft in einer vom Wahnsinn heimgesuchten Welt: Zu diesem Archipel gehörten außerdem Nordeuropa, Südafrika, Brasilien, Kanada, die Karibischen Inseln und diverse andere Außenposten. Kuins Auswirkungen auf die beiden Amerikas waren weitgehend ökonomischer, nicht so sehr politischer Natur. Das globale Chaos, insbesondere in Asien, hatte die Auslandsnachfrage für Fertigwaren versiegen lassen. Kapital wurde aus der Verbrauchsgüterindustrie abgezogen und in die Rüstung investiert, was eine relativ niedrige Arbeitslosigkeit (abgesehen von den Flüchtlingen aus Louisiana), aber eben auch eine ganze Reihe lokaler Engpässe und Rationierungen zur Folge hatte. Die Copperheads reklamierten, die Wirtschaft werde langsam, aber sicher sowjetisiert, und darin, denke ich, haben sie ausnahmsweise einmal Recht gehabt. Weder im Kongress noch im Weißen Haus hatte sich bis jetzt eine Pro-Kuin-Haltung etabliert. Unsere Kuinisten (und ihre radikalen Gegner) waren Straßenkämpfer und keine Organisatoren. Bis jetzt zumindest. Achtbare Copperheads wie Whit Delahunt waren eine andere Sache – sie gab es überall, aber sie kamen ausgesprochen leise daher.
Ich hatte das eine oder andere an Copperhead-Lite-ratur gelesen, akademische Schriftsteller (Daudier, Pressinger, die Pariser Gruppe) und populistische Schreiberlinge (den Bestseller Clothing the Emperor von Forrestall). Ich hatte sogar Werke von Musikern und Romanciers gelesen, die das Image des kuinistischen Untergrunds waren. Zu den beeindruckendsten gehörte Prima facie, das mir aber bestenfalls wie Wunschdenken und schlimmstenfalls wie der Versuch vorkam, die Nation oder eher noch sich (den Schreiber)
Weitere Kostenlose Bücher