Die Clans von Stratos
fort, »daß du mich heute abend begleitest. Wir gehen in die Oper.«
Die Eleganz der Umgebung war für Maia nicht vollkommen überraschend. Sie kannte das Theater der Hauptstadt aus zahlreichen Teleübertragungen und Filmszenen. Als kleines Mädchen hatte sie davon geträumt, in einem Prachtgewand, wie es die reichen Klonfrauen trugen, eine der großartigen Produktionen des Opernhauses anzusehen, während ringsum hinter bescheidenem Lächeln und vorgehaltenem Fächer die Intrigen der großen Clans gesponnen wurden.
Die Phantasie war schön und gut – aber es war etwas völlig anderes, mit den ungewohnten Verschlüssen und Halterungen zu kämpfen und mit den bauschigen, unpraktischen Stoffmassen fertig zu werden, die keinen anderen Zweck erfüllten, als den Reichtum und den Status der Trägerin und ihrer Familie zu demonstrieren. Schließlich erschienen zwei junge Frauen aus Odos Familie, um Maia bei den Vorbereitungen ihres ersten Abends der Heuchelei behilflich zu sein. Sie arrangierten die Puffärmel und die Faltenhose so, daß man kaum eine Narbe sah, aber als sie sich daran machen wollten, Maia zu schminken, verweigerte sie sich strikt. Hier war eine Grenze erreicht, sie fand es ekelhaft, sich anzumalen. Als Odo eintraf, erhielt sie von der alten Frau unerwartet Schützenhilfe.
»Wir wollen doch, daß man sie erkennt«, entschied sie. »Ein kleiner blauer Fleck oder auch zwei fallen auf. Außerdem sieht sie doch auch so hervorragend aus, nicht wahr?«
Maia drehte sich vor dem kostbaren Spiegel, in dem sie sich in voller Größe betrachten konnte. Und was sie sah, versetzte sie in Staunen. Ihre Aufmachung betonte, was sie bislang kaum wahrgenommen hatte, nämlich, daß sie einen Frauenkörper besaß. Sie war vier Zentimeter größer und viel voller als das magere, unbeholfene Küken, das sich vor einigen Monaten schüchtern aus Port Sanger hervorgewagt hatte. Am meisten überraschte Maia jedoch ihr Gesicht: von der schmalen, abheilenden Narbe unter dem rechten Ohr bis zu den Backenknochen, auf denen kein Babyspeck mehr zu entdecken war, und den braunen Haaren, die von Odos aufmerksamen Dienerinnen auf Hochglanz gebürstet worden waren. Und am erstaunlichsten waren die Augen: Um sie herum zeigte sich nicht das kleinste Fältchen, so daß sie auf den ersten Blick jung und unschuldig wirkten. Doch wenn man sie genauer betrachtete, schienen sie gleichzeitig skeptisch und doch heiter, und aus einer bestimmten Perspektive erkannte sie die Stirn ihres Vaters, dem Meister der Schiffe und der Stürme.
Maia hätte sich nie träumen lassen, daß sie einmal so aussehen würde.
Verdammt richtig! dachte Maia und nickte. Nimm die Dinge, wie sie kommen. Und die anderen können sich auf etwas gefaßt machen, wenn sie dich einen Moment aus den Augen lassen.
Leider war das nicht sehr wahrscheinlich. Leies und Brods Leben hing davon ab, daß Maia sich angemessen benahm. Dennoch drehte sie sich nun mit einem Lächeln zu Odo um. Du hast einen Fehler gemacht, daß du mir diesen Anblick gegönnt hast. Wie viele Fehler dir wohl noch unterlaufen?
Das Große Theater lag ein Stück vom Tempel und der Bibliothek entfernt an der Stadtburgpromenade. Pferdekutschen, Lugarsänften und auch einige Motorlimousinen fuhren an der Treppe vor, um die Crème de la crème der Gesellschaft von Caria zur heutigen Premiere der klassischen Oper Wendy und Faustus aussteigen zu lassen. Hohepriesterinnen, Angehörige des Rates, Richterinnen und Savanten erklommen die breiten Stufen. Viele Matronen aus den großen Clans erschienen in Begleitung jüngerer Klontöchter oder -nichten, die für echten Machtbesitz noch zu unerfahren, zur Fortpflanzung aber alt genug waren. Die jüngeren wurden ihrerseits von kleinen Männergruppen eskortiert, von großen, aufrechten Gildenvertretern in den offiziellen Uniformen. Die winterliche Hautevolee der stratoinischen Männer, die hier umworben und unterhalten wurde.
Maia beobachtete das Treiben aus der Kutsche, die sie mit Odo und einem halben Dutzend älterer Frauen aus verschiedenen Adelsclans teilte. Es herrschte eine ausgesprochen kühle Atmosphäre, und unter den verächtlichen Blicken der Klonfrauen kehrte Maias Beklommenheit zurück. Die Feindseligkeit beruhte auf sehr unterschiedlichen Ausprägungen von Fanatismus, aber was diesen Frauen ihre Macht verlieh, ging viel tiefer, bis ins Herz der Gesellschaft, die Lysos vor langer Zeit gegründet hatte.
Von dem Augenblick an, als Maia aus der Kutsche
Weitere Kostenlose Bücher