Die Clans von Stratos
Keller hinunterzulassen. »Meinst du, sie lassen uns noch den ganzen restlichen Abend auf und ab fahren?«
»Kann schon sein«, hatte Leie atemlos erwidert, und ihre Stimme hallte in dem engen Schacht. Mit leisem Klicken registrierte die Winde jeden Zentimeter der Abwärtsfahrt, wie ein Uhrwerk. »Heute früh lag Glorienfrost auf den Fenstersimsen, und du weißt doch, davon kriegen sie Feierlaune. Ich wette, daß die Lamai mehr im Sinn haben als nur eine Zeremonie, mit der sie die drei toten Großmütter unter die Erde bringen.«
Maia erinnerte sich noch, wie sie bei Leies unumwundener Ausdrucksweise zusammengezuckt war. Obgleich die Lamai ihre Vartöchter eher kühl behandelten, wurden sie im Alter doch meist etwas weicher und zeigten manchmal sogar echte Zuneigung. Zwei der verstorbenen Omas hätte man schon fast als liebevoll bezeichnen können. Außerdem war es nicht richtig, schlecht über die Toten zu sprechen. Man sagt, Stratos verwendet alle Atome wieder, die wir ihr zurückgeben, und jedes Teilchen von uns existiert in einem neuen Leben weiter.
An diesem Tag, nach Maias erster direkter Begegnung mit dem Tod, war ein solch abstrakter Trost reichlich schwach. Die enge Aufzugkabine war stickig und schwankte, als sie an der Kurbel drehten. Das Licht ihrer Laternen glitzerte auf den Steinwänden, wo aus den darüber liegenden, schlampig abgedichteten Küchen das Wasser herablief, und das Echo ihres schweren Atems huschte wie eine gefangene Seele über die Wände der Grube. Als die hölzerne Kabine endlich aufsetzte, stiegen die Schwestern erleichtert aus. In einer Richtung standen versiegelte Tonnen mit Getreide und anderen Vorräten für den Fall einer Belagerung. Auf riesigen Regalen lagerten Fässer und schimmernde, mit Wachs verschlossene Flaschen.
Die handgeschriebene Liste in der Hand, war Leie zu den Weingestellen geschlendert, um die gewünschten Jahrgänge zu holen. Da sie wußte, daß ihre Schwester nichts gegen eine kurzfristige Trennung hatte, ging Maia einen anderen Gang hinunter und ließ das Licht ihrer Laterne über ein Steinportal wandern, das eine Tür aus verstärktem Stahl umgab.
Im Felsgestein um die Tür herum war eine verwirrende Vielzahl von Kerben eingeritzt, manche geschwungen, andere gerade und breit genug, daß man ein Messer darin hätte verbergen können. Einige Erhebungen gaben ein wenig nach, wenn man auf sie drückte, und es ertönten faszinierende Klickgeräusche, die auf einen verborgenen Mechanismus schließen ließen.
Das eine Mal, als Maia eine Lamai nach der Tür gefragt hatte, erntete sie eine Maulschelle, daß ihr die Ohren klangen. Leie dachte sich gern Phantasiegeschichten aus über die geheimnisvollen Schätze, die sich hinter dieser Tür verbargen, aber Maia interessierte das Rätsel an sich. Sie schmuggelte Papier und Bleistift mit in den Keller und zeichnete die eingeritzten Formen nach; dann brütete sie stundenlang über mögliche Kombinationen und Geheimcodes. Es mußte eine harte Nuß sein, wenn die Lamai die Varmädchen unbeaufsichtigt in den Keller schickten.
An jenem Tag, nachdem sie die bestellten Flaschen in den Speiseaufzug geladen hatten, trat Leie zu Maia und legte ihr den Arm um die Schulter. »Laß dich nicht von deinem blöden Puzzle so runterziehen. Vielleicht können wir einen hydraulischen Wagenheber hierher schmuggeln, ein fettiges Einzelteil nach dem anderen. Und dann rums! Kein Rätsel mehr!«
»Das ist es nicht«, entgegnete Maia und schüttelte mutlos den Kopf. »Ich hab nur an die alten Frauen gedacht, an die Großmütter. Wir haben sie gekannt. Sie waren immer da, solange wir klein waren, wie die Luft und die Sonne. Jetzt liegen sie in der Kapelle, ganz steif und…« Sie schauderte. Da sie nun vier Jahre alt waren, hatten sie zum ersten Mal an einem Begräbnis teilgenommen. »Und all die anderen in der ersten Reihe, die aussahen, als wüßten sie, daß sie auch bald dran sind.«
Vollblut-Lamai erreichten für gewöhnlich ein reifes Alter von achtundzwanzig oder neunundzwanzig stratoinischen Jahren. Wenn eine von ihnen abtrat, folgte meist innerhalb weniger Wochen eine ganze ›Klasse‹. Demzufolge erwartete niemand, daß dies das letzte Begräbnis der Saison oder auch nur des Monats war.
»Ich weiß«, hatte Leie in ungewöhnlich nachdenklichem Ton geantwortet. »Es hat mir auch angst gemacht.«
Maia lehnte den Kopf an die Schulter ihrer Schwester, getröstet in dem Bewußtsein, daß jemand verstand, welche Fragen ihre Seele
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