Die Clans von Stratos
verordneten oft einer oder mehreren Volltöchtern ein Jurastudium, so daß sie Fälle disputieren und bei Wahlen für eine ganze Gruppe Sammelstimmen abgeben konnten. Welche junge Var aber hatte die Möglichkeit, mehr als einen flüchtigen Blick in die staubigen juristischen Wälzer zu werfen, selbst wenn sie ihnen zugänglich waren? Das System schien absichtlich so eingerichtet, daß die unteren Schichten ausgeschlossen wurden. Andererseits – warum machten sich die Klonfrauen soviel Mühe, wo sie den Sommerlingen zahlenmäßig ohnehin bei weitem überlegen waren?
Maia schüttelte den Kopf. Sie brauchte Rat, sie brauchte Informationen, aber woher? In Long Valley gab es nicht einmal eine organisierte Guardia. Wozu auch? Freibeuter und andere küstenspezifische Probleme waren weit weg, und die Männer wurden in der Brunstzeit einfach verbannt.
Doch es gab einen Ort, an dem sie Hilfe suchen konnte. Einen Ort, den eine junge Var wie sie traditionsgemäß sogar aufsuchen sollte, wenn sie Probleme hatte, die sie allein nicht bewältigen konnte.
Doch sie beschloß, zuerst noch etwas anderes zu probieren.
Die letzte Station des Zuges an diesem Tag war Holly Lock. Diesmal gab Tizbe nicht einmal vor zu helfen, während Maia Pakete schleppte, mit dem leidigen Buchhaltungssystem der Musseli kämpfte und sich dann der Begutachtung einer haarspalterischen Frachtmeisterin stellen mußte. Mit einem hingeworfenen »Tschüß, bis dann«, war die blonde junge Frau verschwunden. Als Maia fertig war, sagte sie sich, gut, daß sie weg ist. Sollte sich jemand anderes um die geheimnisvollen Flaschen kümmern.
Holly Lock war kaum mehr als eine Ansammlung von Lagerhäusern, Getreidehebern und Viehrutschen auf einer Seite der Schienen und einem kleinen Dörfchen mit winzigen Häusern für alleinstehende Vars und Mikroclans auf der anderen. Es gab nichts, was auch nur dem bescheidenen ›Stadtzentrum‹ von Port Sanger ähnelte, wo wenigstens ein paar Staatsbedienstete ihres Amtes walteten, ohne daß es der Bevölkerung weiter auffiel. Maia schulterte ihre Tasche und blieb vor dem Stationsbüro stehen, wo eine ältere, etwas weniger unfreundlich wirkende Musseli mit einer stämmigen Frau plauderte, deren Haut von der Sonne kupferbraun gebrannt war. Als sie merkte, daß Maia sich unschlüssig umschaute, blickte sie auf und zog eine Augenbraue hoch. »Ja?«
Impulsiv faßte Maia einen Entschluß. »Entschuldige, daß ich euch störe, Madam, aber…« Sie schluckte. »Kannst du mir sagen, wo ich in der Stadt eine Savante finde? Eine, die Zugang zum Netz hat? Ich brauche dringend eine Konsultation.«
Die beiden Frauen blickten einander an. Die Stationsvorsteherin kicherte. »Eine Savante, sagst du? Eine Savante? Ich glaube, ich hab schon mal was davon gehört. Sind die nicht was Ähnliches wie Oberschlauberger?« Sie imitierte dabei so sarkastisch den Männerjargon, daß Maia rot wurde.
Aber die Frau mit der sonnengegerbten Haut lächelte, wobei sich um ihre Augen unzählige Fältchen bildeten. »Na, na, Tess. Sie ist doch bloß eine ernsthafte kleine Var. Lysos, kannst du dir überhaupt vorstellen, wieviel sie für eine Konsultation hinlegen müßte? Sie kriegt ja nicht mal den Clantarif. Da muß sie ziemlich dringend einen Rat brauchen.« Sie wandte sich Maia zu. »Wir haben keine eingetragenen Savanten in dieser Gegend des Tals, Fräuleinchen. Aber ich sag dir was: Ich komm auf dem Rückweg zur Mine an der Jopland-Feste vorbei. Ich kann dich mitnehmen.«
»Hmm. Haben die…?«
»Einen Anschluß? – Klar. Die reichsten Mütter in diesem Teil der Welt. Haben die ganze Konsole mit allem Drum und Dran. Aber vielleicht brauchst du das ja auch gar nicht. Ich denke nämlich, dir fehlt im Grunde bloß ein guter mütterlicher Ratschlag. Würde dir auch die Kosten für die Konsultation sparen.«
Mütterlicher Rat war genau das, was man Maia zu suchen beigebracht hatte, falls sie je mit der Welt nicht zurechtkommen würde. Im Idealfall standen die Mütter des größten, angesehensten Clans einer bestimmten Gegend in solchen Fällen nicht nur ihren eigenen Töchtern zur Verfügung, sondern jedem Ratsuchenden – selbst einem Mann oder einer Var, vorausgesetzt, der Bittsteller war ehrlich und brauchte wirklich Hilfe. Im Grunde hatte Maia aber gar keine Lust, ihr Herz einer Truppe ältlicher Klonfrauen auszuschütten, die es gewohnt waren, hier im Niemandsland feudal Hof zu halten. Sicher würden sie Maia nur mit Platitüden überschütten
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