Die Company
Festsaal des Hotels über die neuesten Entwicklungen in Ungarn unterrichtet werden sollten.
Er machte es sich gerade auf einem der Klappstühle im Festsaal bequem, als eine junge Frau durch die Flügeltür zur Küche kam. Jack sah genauer hin, weil sie ihm irgendwie bekannt vorkam. Sie trug einen blauen Rock, eine weiße Rüschenbluse und eine taillierte Reitjacke. Ihr Mund war mit himbeerrotem Lippenstift geschminkt. Sie ging quer durch den Saal zum Podium und kratzte mit einem sehr langen, sehr roten Fingernagel über das Mikro, um festzustellen, ob es eingeschaltet war. Dann ließ sie den Blick über die etwa neunzig Company -Mitarbeiter wandern, die sich im Festsaal drängten. »Mein Name«, verkündete sie mit energischer Stimme, »ist Mildred Owen-Brack.«
Natürlich! Owen-Brack! Vor einer halben Ewigkeit hatte Jack im piekfeinen Cloud Club in Manhattan dummerweise versucht, sie anzumachen, aber sie war nicht an einem Abenteuer für eine Nacht interessiert gewesen.
Auf dem Podium lieferte Owen-Brack eine Zusammenfassung der letzten Nachrichten aus Ungarn. Die alte stalinistische Garde in Budapest war davongejagt und Imre Nagy, der ehemalige Ministerpräsident, zum Kopf der neuen Regierung gemacht worden. Nagy, der für ein System eintrat, das kommunistische Intellektuelle als Marxismus mit einem menschlichen Gesicht bezeichneten, hatte den Russen mitgeteilt, er könne keine Verantwortung dafür übernehmen, was passieren würde, falls die sowjetischen Truppen nicht aus Budapest abgezogen würden. Wenige Stunden danach hatten die russischen Panzer an den größten Kreuzungen der Stadt die Motoren angeworfen und den Rückzug angetreten.
Laut Owen-Brack war nun die alles entscheidende Frage: Würden die Sowjets untätig bleiben, wenn Nagy Ungarn aus dem russischen Machtbereich löste? Holten sie ihre Panzerdivisionen nur zurück, um Zeit zu gewinnen und anschließend mit verstärkten Kräften aus der Ukraine das gesamte Land zu besetzen?
Nachdem Owen-Brack fertig war, erörterte Jack noch ein paar knifflige Probleme des Flüchtlingssichtungsprogramms mit seinen jüngeren Mitarbeitern, dann schlenderte er zur Bar im hinteren Teil des Festsaals. Owen-Brack war schon da und plauderte mit zwei Besuchern. Jack bestellte sich einen Whiskey und beobachtete sie. Als sie sich eine Salzbrezel von der Bar nehmen wollte, trafen sich ihre Blicke.
»Es wäre doch jammerschade, im obersten Stock des Hotels gewesen zu sein, ohne das Panorama genossen zu haben«, sagte er. »Von dem Fenster da drüben sieht man die schöne blaue Donau auf ihrem Weg nach Ungarn.«
Owen-Brack musterte Jack und überlegte, woher sie ihn kannte. Dann schnippte sie mit den Fingern. »New York. Cloud Club. Ihren Namen habe ich leider vergessen.« Sie lachte. »Ehrlich gesagt, ohne den Schnurrbart hätte ich Sie nicht wieder erkannt … Sie haben sich verändert.«
»In welcher Weise?«
»Sie wirken älter. Ihre Augen …« Sie sprach nicht weiter.
»Älter und weiser, hoffe ich.«
»Nur wenn Sie mit weiser weniger arrogant meinen«, sagte sie mit einem melodischen Lachen. »Sie waren ganz schön von sich eingenommen.«
Jack lächelte, und Owen-Brack gab ihm die Hand. »Meine Freunde nennen mich Millie.«
Jack erwiderte den Händedruck. »Jack McAuliffe.«
Er bestellte ihr einen Daiquiri, und gemeinsam schlenderten sie zu dem Panoramafenster mit Blick auf die Donau. Wegen der Kronleuchter hinter ihnen konnten sie bloß ihr eigenes Spiegelbild sehen. »Was haben Sie denn so gemacht seit damals im Cloud Club ?«, fragte sie sein Spiegelbild im Fenster.
»Dies und das.«
»Und wo haben Sie ›dies und das‹ gemacht?«
»Hier und dort.«
Um Owen-Bracks braune Augen bildeten sich kleine Lachfältchen. »He, Top-Secret-Nachrichten sind bei mir gut aufgehoben. Ich darf alles lesen, was Allen Dulles auf den Tisch kriegt.«
Jack sagte: »Ich bin in Berlin stationiert.«
»Berlin soll ein harter Job sein.«
»So sagt man.«
»Jetzt verstehe ich, warum Ihre Augen älter aussehen.«
Jack wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und sah sie direkt an. Sie gefiel ihm. »Mein Vorgesetzter Harvey Torriti leidet an Magenbeschwerden, Appetitlosigkeit, mehr oder weniger chronischen Schmerzen im Solarplexus. Ich auch. Aber bislang hatte ich Glück und habe alle Gefechte überlebt, anders als Ihr Mann.«
Millie war gerührt. »Danke, dass Sie das nicht vergessen haben«, sagte sie leise.
Sie prosteten sich zu und tranken auf die Gefechte innerhalb und
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