Die Company
mein Verbindungsmann. Jetzt willst du das Blatt umdrehen.«
»Du kannst dich freier bewegen –«
»Vielleicht beobachten sie uns jetzt, in diesem Moment«, sagte Leo.
»Ich habe ein paar profimäßige Vorsichtsmaßnahmen getroffen, bevor ich zum Grab des unbekannten Soldaten gekommen bin.«
»Also schön. Nehmen wir an, ich kann mich freier bewegen. Um was zu tun?«
»Zunächst einmal denke ich, dass du alles, was ich dir erzählt habe – das geheime Treffen in Perchuschowo, die Liste mit den Teilnehmern – deinen ehemaligen Freunden bei der CIA stecken solltest.«
»Um das zu erreichen, brauchst du doch nur einen anonymen Brief an die Moskauer Dienststelle der CIA zu schicken –«
»Wir müssen davon ausgehen, dass der KGB die CIA-Dienststelle abhören lässt. Wenn die Amerikaner über meinen Brief sprechen, kommt der KGB mir im Handumdrehen auf die Spur. Nein, jemand muss direkt mit den Spitzenleuten der Company in Washington sprechen. Und dieser jemand bist logischerweise du. Dir werden sie glauben, Leo. Und wenn sie dir glauben, können sie möglicherweise Gorbatschow überzeugen, dass es Zeit ist, den Stall auszumisten, die Verschwörer festzunehmen. Die CIA hat einen langen Arm – vielleicht können sie hinter den Kulissen agieren, um die Verschwörung zu vereiteln.«
Leo kratzte sich am Ohr, dachte über Jewgenis Vorschlag nach.
»Natürlich darfst du ihnen nicht verraten, woher du deine Informationen hast«, fügte Jewgeni hinzu. »Sag ihnen bloß, dass du einen Maulwurf im Kreis der Verschwörer hast.«
»Angenommen, ich mache mit. Das heißt aber nicht, dass du deshalb nicht doch erst versuchen solltest, direkt mit Gorbatschow zu sprechen –«
»Ich bin dir einen Schritt voraus, Leo. Ich kenne da eine Person, der ich vertrauen kann, die eng mit Jelzin zusammenarbeitet. Vielleicht kann ich über sie etwas erreichen.«
Die beiden Männer blieben stehen und sahen einander an. »Ich habe gedacht, das Spiel wäre vorbei«, sagte Leo.
»Es ist nie zu Ende«, sagte Jewgeni.
»Sei um Gottes willen vorsichtig.«
Jewgeni nickte. »Es wäre doch wohl zu albern, wenn ich Amerika überlebt habe und dann in Russland drauf gehe.«
Auch Leo nickte. »Zu albern und zu absurd.«
Das Auditorium, eine zugige Fabrikhalle, wo sich Arbeiter einst langatmige Vorträge über die Schönheiten der Diktatur des Proletariats anhören mussten, war zum Bersten voll. Studenten saßen im Schneidersitz auf dem Boden oder standen dicht gedrängt an den Wänden. Auf einem niedrigen Podest, unter einem einzigen Strahler an der Decke, stand eine schlanke Frau mit kurzen dunklen Haaren und sprach in ein Mikrofon. Ihre melodiöse Stimme ließ sie jünger klingen, als sie mit ihren neunundfünfzig Jahren war. »Als sie von meiner Kartei erfuhren«, sagte sie, »als sie herausfanden, dass ich die Namen von Stalins Opfern sammelte, verschleppten sie mich in einen überhitzten Raum in der Lubjanka und machten mir klar, dass ich eine Gefängnisstrafe riskierte … oder Schlimmeres. Das war im Jahre 1956. Danach erfuhr ich, dass ich als gesellschaftlich gefährliches Element gebrandmarkt worden war. Und wieso? Weil ich mit meiner Dokumentation über Stalins Verbrechen – meine Kartei umfasst mittlerweile zweihundertfünfundzwanzigtausend Fälle, und ich habe erst die Oberfläche angekratzt – drohte, die Geschichte denjenigen zurückzugeben, denen sie gehört, nämlich dem Volk. Wenn die Kommunisten die Kontrolle über die Geschichte verlieren, landet ihre Partei, um es mit Trotzki zu sagen, im Mülleimer der Geschichte.«
Tosender Applaus brandete auf. Als der Lärm wieder abebbte, fuhr die Rednerin fort.
»Michail Gorbatschow ist eine führende Kraft bei der Rückgabe der Geschichte an das Volk – keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass unsere Nation nie eine Reformation, eine Renaissance, eine Aufklärung durchlebt hat. Seit er 1985 an die Macht kam, hat das Fernsehen Dokumentarfilme nicht nur über Stalins brutale Kollektivierung der Landwirtschaft Anfang der Dreißigerjahre gezeigt, sondern auch über die gnadenlosen so genannten Säuberungen Mitte der Dreißigerjahre, in denen Millionen von Menschen teils ohne Prozess exekutiert oder in die Gulags geschickt wurden.«
Die Rednerin nahm einen Schluck Wasser. Die Zuschauer waren totenstill. Sie stellte das Glas wieder ab und sah auf, ließ den Blick über die Gesichter schweifen, bevor sie mit leiserer Stimme weitersprach. Die Studenten lauschten angestrengt,
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