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Die Company

Die Company

Titel: Die Company Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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um ihre Worte zu verstehen.
    »Das alles ist die positive Seite von Gorbatschows Regierung. Es gibt aber auch eine negative. Wie viele Reformer scheut Gorbatschow sich, dem Weg zu folgen, den Logik und gesunder Menschenverstand und eine unvoreingenommene Geschichtsbetrachtung weisen würden. Gorbatschow sagt, dass Stalin eine Verirrung war – eine Abweichung von der leninistischen Norm. Blödsinn! Wann geben wir endlich zu, dass Lenin das Genie des Staatsterrors war? Als die Bolschewiken 1918 die Wahl verloren, löste Lenin die demokratisch gewählte Konstituierende Versammlung auf. 1921 begann er systematisch mit der Liquidierung der politischen Gegner, zunächst außerhalb, schließlich innerhalb der Partei. Was er schuf, war eine Partei, die sich der Ausmerzung abweichender Meinungen und der physischen Vernichtung Andersdenkender verschrieb. Dieses leninistische Modell hatte Stalin geerbt.« Die Stimme der Frau wurde noch leiser; die Zuhörer wagten kaum zu atmen. »In diesem System wurden Gefangene so schlimm misshandelt, dass sie auf Tragen vor die Erschießungskommandos gebracht werden mussten. In diesem System wurde dem Schauspieler Meyerhold der linke Arm gebrochen, bevor man ihn zwang, mit dem rechten ein Geständnis zu unterschreiben. In diesem System wurde der Lyriker Ossip Mandelstam nach Sibirien verbannt, und zwar für das Verbrechen, ein Gedicht über Stalin, das alles andere als ein Loblied war, verfasst und öffentlich vorgetragen zu haben. In diesem System wurden meine Eltern ermordet und ihre Leichen zusammen mit denen von neunhundertachtundneunzig anderen, die am selben Tag exekutiert wurden, zur Einäscherung ins Kloster Donskoi gekarrt.« Die Rednerin wandte den Blick ab, um sich zu sammeln. »Mir selbst ist bisher jeder Zugang zu den sowjetischen Archiven verwehrt worden, in denen Geheimakten gelagert sind. Aber ich habe Grund zu der Annahme, dass dort an die sechzehn Millionen Akten über Festnahmen und Exekutionen liegen. Solschenizyn schätzt, dass dem Stalinismus sechzig Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.«
    Die Frau brachte ein tapferes Lächeln zustande. »Meine lieben Freunde, es wartet einiges an Arbeit auf uns.«
    Nach einem Augenblick der Stille setzte stürmischer Beifall ein, der gleich darauf durch rhythmisches Füßestampfen noch verstärkt wurde. Scharenweise eilten die begeisterten Zuhörer nach vorn und umringten die Rednerin. Als der Saal sich schließlich leerte, näherte Jewgeni sich dem Podium, wo die Frau gerade ihre Notizen in einer abgegriffenen Aktentasche verstaute. Sie blickte auf und erstarrte.
    »Bitte entschuldige, dass ich so plötzlich hier auftauche –« Jewgeni schluckte schwer und setzte neu an. »Wenn du bereit bist, mit mir zu sprechen, wirst du verstehen, dass es für mich und auch für dich gefährlich hätte sein können, wenn ich dich zu Hause angerufen hätte. Deshalb war ich so frei –«
    »Wie viele Jahre ist es her?«, unterbrach sie ihn im Flüsterton.
    »Es war gestern«, erwiderte Jewgeni mit Gefühl. »Ich war unter einem Baum im Garten der Datscha meines Vaters in Peredelkino eingeschlafen. Du hast mich geweckt – deine Stimme war gestern so klangvoll wie heute: ›Eigentlich mag ich den Sommer nicht besonders.‹«
    Er stieg aufs Podium und trat nahe an sie heran. Sie wich zurück, verunsichert durch die Intensität in seinem Blick. »Du raubst mir wieder den Atem, Jewgeni Alexandrowitsch«, gestand sie. »Wie lange bist du schon wieder im Lande?«
    »Sechs Jahre.«
    »Wieso hast du sechs Jahre gebraucht, um zu mir zu kommen?«
    »Als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben – ich habe dich von einer Telefonzelle aus angerufen –, hast du mir zu verstehen gegeben, dass es besser wäre, zumindest für dich, wenn wir uns nie wieder sehen.«
    »Und was hat dich bewogen, dich über das Verbot hinwegzusetzen?«
    »Ich habe Artikel in den Zeitungen über dich gelesen – ich habe im Fernsehen ein Interview von dir mit Sacharow gesehen –, ich weiß, dass du eng mit Jelzin zusammenarbeitest, dass du zu seinem Beraterstab gehörst. Deshalb habe ich mich über das Verbot hinweggesetzt. Ich habe sehr wichtige Informationen, die Jelzin erreichen müssen, und über ihn Gorbatschow.«
    Von der Tür des Saales rief der Hausmeister: » Gospodina Lebowitz, ich muss abschließen.«
    Jewgeni sagte mit drängender Stimme: »Bitte. Ich bin mit dem Wagen da. Lass uns irgendwo hinfahren, wo wir reden können. Ich verspreche dir, du wirst es

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