Die Corleones
Verrückter würde ihm ins Gesicht spucken. Das war die einzige Erklärung, die Sonny für so etwas Unfassbares einfallen wollte: Der Mann auf dem Stuhl musste verrückt sein. Bei dem Gedanken beruhigte sich Sonny ein wenig. Für einen Augenblick hatte er Angst bekommen, weil er nicht begriff, was er da sah, doch dann ging sein Vater wieder in die Hocke, um mit dem Mann zu sprechen, und diese Haltung war ihm vertraut, sie bedeutete, dass sein Vater etwas ernst meinte, dass er Sonny etwas Wichtiges erklären wollte. Also war der Mann wirklich verrückt, und sein Vater würde ihm gut zureden, ihn zur Vernunft bringen. Ganz bestimmt würde der Mann jeden Moment nicken, und sein Vater würde ihn losbinden, und was auch immer da schiefgelaufen war, wäre aus der Welt geschafft, denn das war ganz offensichtlich der Grund, warum sie seinen Vater überhaupt gerufen hatten, um irgendetwas wieder in Ordnung zu bringen, um ein Problem zu beheben. Alle wussten, dass er das gut konnte. Jeder in der Gegend wusste, dass sein Vater aushalf, wenn es Schwierigkeiten gab. Sonny beobachtete aufmerksam, was da unter ihm ablief, und wartete darauf, dass sein Vater alles richten würde. Stattdessen begann der Mann auf dem Stuhl wie wild zu zappeln, und sein Gesicht wurde rot vor Zorn. Er sah aus wie ein Tier, das seine Fesseln zerreißen wollte, dann legte er den Kopf schräg und spuckte Sonnys Vater noch einmal an, die Spucke voller Blut, so dass es aussah, als hätte er Vito Corleone verletzt, dabei war es sein eigenes Blut. Sonny hatte gesehen, wie dem Mann das Blutaus dem Mund geschossen war. Er hatte gesehen, wie es seinem Vater ins Gesicht klatschte.
Was daraufhin geschah, war das Letzte, woran Sonny sich erinnern konnte. Als Kind erlebt man oft seltsame, rätselhafte Dinge, die man erst irgendwann später begreift, wenn man entsprechende Erfahrungen gemacht hat. Damals war Sonny jedenfalls völlig fassungslos. Sein Vater stand auf und wischte sich die Spucke aus dem Gesicht, dann schaute er den Mann noch einmal an, bevor er sich umdrehte und davonging, aber nur ein, zwei Meter bis zur Hintertür, wo er reglos stehen blieb, während Onkel Sally hinter ihm ausgerechnet einen Kopfkissenbezug aus der Jacketttasche zog. Onkel Sally war der Größte von allen, aber er ging leicht vornübergebeugt und ließ die Arme herabhängen, als wüsste er nicht so recht, wohin damit.
Ein Kopfkissenbezug
. Sonny sprach das Wort laut aus, ein Flüstern in der Nacht. Onkel Sally trat hinter den Stuhl und zog dem Mann den Bezug über den Kopf. Onkel Peter griff nach dem Brecheisen und holte aus, und an das, was dann geschah, erinnerte sich Sonny nur noch verschwommen. Nur ab und zu blitzte etwas in seinem Gedächtnis auf: wie Onkel Sally dem Mann den Bezug über den Kopf zog, wie Onkel Peter mit dem Brecheisen ausholte, wie der weiße Bezug allmählich rot wurde, grellrot, wie sich seine beiden Onkel über den Mann auf dem Stuhl beugten und die Wäscheleine losbanden. Darüber hinaus wusste er nichts mehr. Irgendwie musste er nach Hause und ins Bett gelangt sein. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie. Bis zu dem Kopfkissen stand ihm noch alles einigermaßen klar vor Augen, aber dann wurde seine Erinnerung unscharf und verblasste schließlich ganz.
Lange Zeit begriff Sonny nicht, was er da gesehen hatte. Er brauchte Jahre, um alle Puzzleteile zusammenzusetzen.
Auf der anderen Seite der Eleventh Avenue flatterte der Vorhang über dem Friseurladen und wurde dann aufgerissen, und Kelly O’Rourke stand im Fenster, schaute auf die Straße hinunter wie ein fleischgewordenes Wunder – ein kurzer Lichtschein auf dem Körper einer jungen Frau, der von schwarzen Feuertreppeneingerahmt war, von schmutzig roten Backsteinmauern und dunklen Fenstern.
Kelly blickte in die Finsternis hinaus und legte sich die Hand auf den Bauch, eine Geste, die sie, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, während der vergangenen Wochen immer wieder gemacht hatte – sie tastete nach dem leisen Zittern des Lebens, das, wie sie wusste, dort Wurzeln schlug. Dabei strich sie sich über die noch immer straffe Haut und versuchte sich zu sammeln, ihre umherirrenden Gedanken einzufangen. Ihre Familie, ihre Brüder hatten sie bereits verstoßen, mit Ausnahme von Sean vielleicht, was kümmerte es sie also, was sie dachten? Im Club hatte sie eine der blauen Pillen genommen, und jetzt fühlte sie sich leicht und luftig. Ihre Gedanken gingen in alle Richtungen. Vor ihr befand sich nur
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