Die Corleones
Finsternis und ihr eigenes Spiegelbild in der Scheibe. Es war spät, und alle ließen sie immer alleine, die ganze Zeit. Sie drückte sich die Hand auf den Bauch, wollte etwas spüren. So sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, ihre Gedanken zu sammeln, sich auf eine Sache zu konzentrieren.
Tom trat zu ihr und zog den Vorhang zu. »Komm schon, Schätzchen. Was soll denn das?«
»Was denn?«, sagte Kelly.
»So am Fenster zu stehen.«
»Na und? Hast du Angst, jemand könnte dich mit mir sehen, Tom?« Kelly legte die Hände auf die Hüften und ließ sie dann in einer Geste der Resignation fallen. Schließlich ging sie wieder im Zimmer auf und ab, den Blick in einem Moment auf den Boden gerichtet, im nächsten auf die Wände. Tom schien sie gar nicht mehr wahrzunehmen – sie war mit ihren Gedanken ganz woanders.
»Kelly, hör mal. Ich geh erst seit ein paar Wochen aufs College, und wenn ich nicht zurückkomme …«
»Jetzt heul nicht rum. Um Himmels willen.«
»Ich heul nicht. Ich versuche nur, etwas zu erklären.«
Kelly blieb stehen. »Ich weiß. Du bist noch ein kleiner Junge. Das wusste ich schon, als ich dich aufgelesen habe. Wie alt bist du überhaupt? Achtzehn? Neunzehn?«
»Achtzehn«, sagte Tom. »Ich mein ja nur, ich muss wieder zurück ins Wohnheim. Wenn ich morgen früh nicht da bin, fällt das auf.«
Kelly zupfte sich am Ohr und starrte Tom an. Sie schwiegen beide, ließen einander nicht aus den Augen. Tom fragte sich, was Kelly wohl sah. Das fragte er sich bereits, seit sie im Juke’s Joint zu ihm an den Tisch geschlendert war und ihn zum Tanzen aufgefordert hatte – mit einer Stimme, die so sexy gewesen war, als hätte sie ihn aufgefordert, mit ihr zu schlafen. Er hatte es sich auch gefragt, als sie ihn nach nur wenigen Tänzen und nur einem einzigen Drink zu sich nach Hause eingeladen hatte. Sie hatten nicht viel geredet. Tom hatte ihr erzählt, dass er auf die NYU ging. Sie erzählte ihm, dass sie zurzeit arbeitslos war und aus einer großen Familie kam, mit der sie sich jedoch nicht verstand. Sie wollte zum Film. Sie hatte ein langes blaues Kleid getragen, das sich von den Waden bis zu ihren Brüsten an ihren Körper schmiegte, weit ausgeschnitten, so dass ihre weiße Haut einen auffallenden Kontrast zu dem samtigen Stoff bildete. Tom sagte ihr, dass er keinen Wagen habe, dass er mit Freunden da sei. Sie erklärte ihm, das sei kein Problem, sie habe schließlich einen, und er fragte sie nicht, wie ein arbeitsloses Mädchen aus einer großen Familie sich das leisten konnte. Aber vielleicht gehörte der Wagen ja gar nicht ihr, und als sie dann nach Hell’s Kitchen fuhren, erzählte er ihr nicht, dass er hier in der Gegend aufgewachsen war, nur ein paar Blocks entfernt von der Eleventh Avenue, wo sie den Wagen abstellten. Als er ihre Wohnung sah, wurde ihm endgültig klar, dass der Wagen nicht ihr gehörte, aber ihm blieb keine Zeit, um Fragen zu stellen, bevor sie im Bett landeten und er mit den Gedanken ganz woanders war. Heute Nacht hatten sich die Ereignisse überschlagen, und das war er nicht gewohnt, so dass er jetzt, während er sie ansah, angestrengt nachdachte. Ihr Auftreten schien sich von einem Moment auf den nächsten zu verändern: Erst hatte sie ihn verführt, dann war sie plötzlich das verletzbare Mädchen gewesen, das nicht wollte, dass er ging, und nun spielte sie die Unnahbare, der nichts etwas anhaben konnte. Während sie seinen Blick erwiderte, verzogen sichihre Lippen zu einem spöttischen Grinsen. Auch Tom spürte, dass in ihm etwas vorging. Er wappnete sich gegen das, was sie gleich sagen oder tun würde, überlegte, was er ihr entgegnen sollte.
»Was bist du denn eigentlich?« Kelly stand mit dem Rücken an einen Küchentresen gelehnt, gleich neben einem Porzellanwaschbecken. Mit einer raschen Bewegung zog sie sich hinauf und schlug die Beine übereinander. »Eine irisch-italienische Promenadenmischung?«
Tom nahm seinen Pullover vom Bettgitter, legte ihn sich über die Schultern und machte einen Knoten in die Ärmel. »Ich bin halb Deutscher, halb Ire. Wie kommst du darauf, dass ich Italiener bin?«
Kelly nahm eine Schachtel Wings aus einem Schränkchen hinter sich, öffnete sie und zündete sich eine Zigarette an. »Weil ich weiß, wer du bist«, sagte sie und legte eine dramatische Pause ein, als stünde sie vor der Kamera. »Du bis Tom Hagen. Vito Corleones Adoptivsohn.« Sie zog lang und tief an ihrer Zigarette. Hinter dem Rauchschleier funkelte eine
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