Die Cromwell Chroniken 02 - Grabes Hauch
missbrauchen?
Er sah zu Cendrick hinüber, der völlig hemmungslos Kleiderbügel hin und her schob. Doch das war etwas anderes: Cendrick war ihr Bruder. Sie waren gemeinsam aufgewachsen und von klein auf zusammen gewesen. Er versuchte sich Cat vorzustellen, mit ihrem katzenhaften Lächeln und dem ruhigen Blick. Das Bild veränderte sich jedoch und er sah sie mit aufgeschnittenen Pulsadern am Boden liegen. In einer Lache aus dunkelrotem Blut. Das versetzte ihm ein Stich.
Nein, ich will ihre Privatsphäre nicht verletzen. Aber noch weniger will ich, dass sie stirbt.
Entschlossen zog er die Tasche auf und entleerte den Inhalt auf den Fußboden. Zum Vorschein kamen ein Lipgloss, ihr Handy, ein unbeschriebener Block und ein Kuli. Kein Tagebuch.
Er griff nach dem Block und blätterte ihn durch. Womöglich hatte sie in der Mitte etwas hineingeschrieben.
Nichts.
Also muss ich es anders angehen , grübelte er. Wenn ich ein Tagebuch verstecken würde, wo würde ich es hintun?
Er schloss die Augen und versuchte, sich ganz auf diese Frage zu konzentrieren. Wo versteckte man ein Tagebuch. Was war der beste Ort?
Dort, wo ich Tagebuch schreibe! Und wo würde ich es schreiben?
Er sah zum Schreibtisch hinüber und entschied sofort, dass dies nicht der richtige Ort sein konnte. Dort tippte sie an ihrem Laptop. Dort studierte sie die Pflichtlektüre. Für ein Tagebuch suchte sich Cat eine andere Umgebung.
Sein Blick forschte weiter und fiel auf das Bett. Mit zwei Schritten war er dort. Er hob Kissen und Decke hoch.
Nichts.
Sie hat es irgendwo aufbewahrt, wo sie leicht rankommt.
Er setzte sich auf das Bett und versuchte, nachzudenken. Seine Hand glitt über die Matratze, über die Kante und nach unten. Er fühlte den Bettpfosten und – einen Buchrücken!
Schnell griff er danach und zog ein Buch in der Größe A5 hervor. Es hatte einen schwarzen Einband mit goldenen Intarsien, die eine Frau an einem Brunnen darstellten. Es machte einen sehr eleganten Eindruck. Von allen Büchern, die man in einer Papeterie finden konnte, hätte er genau dieses für sie ausgesucht. Das Schwarz machte es schlicht und das Gold edel. Das Bild hatte etwas Feminines und wirkte durch die Struktur der eingelegten Goldteilchen doch mysteriös.
Schwer wog das Buch in seiner Hand. Ein Buchzeichen zeigte ihm, dass es schon zu drei Vierteln beschrieben war.
„Cendrick“, sagte er leise.
Dieser wandte sich zu ihm um. Als er Flint auf dem Bett mit dem Buch in der Hand erblickte, gesellte er sich zu ihm.
„Was steht drin?“, verlangte der Blonde zu wissen.
„Ich hab es noch nicht aufgemacht“, gestand Flint.
„Worauf wartest du denn noch? Wir haben schon genug Zeit verloren. Mach es auf!“
Doch Flint konnte nicht. Erst jetzt war ihm der Gedanke gekommen, dass Katharina womöglich etwas über ihn hineingeschrieben haben könnte. Was würde er dort über sich lesen? Wollte er überhaupt wissen, was sie von ihm dachte?
„Dann eben nicht!“
Cendrick, dem das Zögern zu lange dauerte, schnappte sich das Buch und schlug es auf.
Flint sah zur Seite.
Na, großartig! Jetzt liest Cendrick das, was über mich in dem Buch steht.
Diese Aussicht war kein bisschen verlockender. Ob er es ihm aus der Hand reißen sollte? Doch das wäre albern. Und vielleicht schrieb sie ja gar nicht über ihn. Vielleicht nutzte sie das Buch für ganz andere Sachen und er machte sich umsonst einen Kopf.
Die Ungewissheit machte ihn halb wahnsinnig. Er sah wieder zu Cendrick zurück. Dieser blätterte schnell und teilnahmslos das Buch durch. Bei diesem Tempo konnte er womöglich einige Worte aufschnappen, aber nicht lesen, was genau Cat zu Papier gebracht hatte. Das erleichterte den Geisterseher.
„Schon etwas gefunden?“, erkundigte er sich.
„Nope. Bisher nur Text. Ich denke mal, dass sie ihr Passwort irgendwie markiert hat. Wenn sie es überhaupt hier hineingeschrieben hat …“
Cendrick näherte sich dem Ende des Buches. Die Seiten waren leer. Als er jedoch die letzte Seite aufschlug, entdeckten sie einen einzigen Satz: „Wenn der Morgenstern aufgeht, dann erfüllt sich der Schwur in der Nacht seiner Verheißung.“
Flint hatte auf einmal einen trockenen Mund. Wortlos starrte er auf die Seite und las den Satz immer wieder.
„Sie hat das Passwort in einem Satz versteckt“, bemerkte er.
„Tja, meine Schwester ist eben clever. Also, Morgenstern ist unterstrichen. Dann hat sie ihren Benutzernamen nicht geändert. Sehr gut. Schwur hat sie auch anders
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