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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
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winzigen, begrenzten Feuersbrünste auszulösen. Ich benutze zerknülltes Zeitungspapier und misslungene Origami-Figuren. Ich bin streng mit meinem eigenen Handwerk: eine schlechte Faltung, der falsche Knick oder ein kleiner Riss im Papier, schon wird das Teil geopfert. Ich denke an Sunny Chen, der eine Nachbildung seiner selbst verbrannt hatte. Es sei möglich, dass der Körper dem Verstand nicht gehorche, hat er gesagt. Wie kann das sein? Ist es wie bei meinen nächtlichen Anfällen von Restless-Legs-Syndrom, bei denen sich das Gehirn nach Ruhe sehnt, während die unteren Gliedmaßen einer eigenen sinnlosen, erregten Tagesordnung folgen? Sie gelangen in den Blutkreislauf , hatte er gesagt. Die Parasiten. Wovon aber ernähren sich die hungrigen Geschöpfe in seinem Inneren, die er als »Folterknechte« bezeichnete? Ich schlage es nach. Reis, sagt eine Quelle. Obst. Suppe. Süßigkeiten. Fleisch. Was immer sie in ihre Geisterhände bekommen und in ihren Geistermund stopfen und in ihren Geister-Blutkreislauf aufnehmen können.
    Manchmal überwältigt mich ein Gefühl körperlicher Beschränkung: Es ist, als wäre ich in einem Ei gefangen undmüsste mich daraus befreien. Um drei Uhr gab ich nach und schloss die Akte Chen. Warf meinen Anorak über, schnappte mir den Regenschirm und stürmte ins Freie.
    Ich habe meine festen Rituale. Fünfeinhalb Minuten bis zum Tor. Neun Minuten über den Schafpfad. Eine Pause von dreißig Sekunden an dem rautenförmigen schwarzen Felsbrocken mit den glänzenden Seiten und über die Klippe nach unten, wo sich eine Reihe von Bäumen im Wind krümmt. Dann ans Ufer. Der Großteil der Insel ist felsig und trocken, doch in diesem Bereich saugt das Sumpfland die Flüssigkeit hungrig wie ein Schwamm auf und atmet Methan aus. Das fossile Gas steigt in winzigen Champagnerbläschen an die Oberfläche, entzündet sich und tanzt mit flackernden blauen Lichtranken umher. Man kann es sehen, wenn sich wie jetzt am Spätnachmittag die Dunkelheit verdichtet. In alter Zeit nannte man sie Irrlichter und erklärte sie zum Werk von Kobolden. Ein anderer Volksglaube besagt, es seien wilde Feenkinder, die sich hier herumgetrieben hätten. Manchmal hätten sie ihren Platz mit Menschen getauscht und als Wechselbälger weitergelebt.
    Der japanischen Folklore zufolge muss man tausend ozuru falten, um seinen größten Herzenswunsch zu verwirklichen. Wie die meisten Origami-Liebhaber habe ich viel mehr davon gefaltet, bin aber der Erkenntnis, was denn mein Herzenswunsch ist, immer noch nicht näher gekommen.
    Früher war es einfach nur Frieden: dass man mich in Ruhe lässt, so wie jetzt, damit ich übers Moor wandern und über einen rätselhaften Fall nachdenken kann.
    Der Junge hat alles verändert.
    Als wir noch wie eine Familie zusammenlebten, weckte Kaitlin ihn, bevor sie zur Arbeit fuhr. Bis er angezogen war, hatte ich Freddys Frühstück vorbereitet. Zwei Jahre lang servierte ich ihm an jedem Schulmorgen eine Schüssel Joghurt mit elfRosinen obendrauf und ein Vierminutenei. Während er den Joghurt aß, legte ich die Eier in kochendes Wasser, stellte die Eieruhr ein, und dann spielten wir das »Eierspiel«: Ich warf ein Geschirrtuch über die Uhr, und wir machten beide »Ping«, wenn wir glaubten, dass die vier Minuten vorbei seien. Wenn man das echte Ping verpasste, hatte man auf ganzer Linie verloren. Der Trick bestand darin, die Zeit richtig einzuschätzen. Als ich mich zum Gehen entschied, waren wir beim Eierspiel äußerst versiert geworden.
    »Ich weiß, dass deine Mama schon mit dir darüber gesprochen hat«, sagte ich, nachdem er mit drei Sekunden Abstand zum echten Ping gewonnen hatte. Er musste das Gespräch vorausgeahnt haben, denn er hielt sich die Ohren zu. Ich sprach trotzdem weiter. »Wir haben beschlossen, nicht mehr zusammenzuleben.« Es musste ausgesprochen werden. Von mir und von Kaitlin. »Aber ich hoffe, wir sehen uns trotzdem weiterhin.« Ich stellte Freddy den Eierbecher hin. »Heute holt Mama dich von der Schule ab. Ich bin heute Abend nicht mehr da. Aber ich komme vorbei, wann immer ich kann. Freddy K?«
    Er antwortete nicht.
    Wir hatten unsere Rituale. Eines bestand darin, dass er mit der tiefen, verzerrten Stimme, die er für den Archaeopteryx verwendete, »Dunke-schön-donke-schön-danke-schön« sagte, worauf ich – das war der bildende Teil – »Gern geschehen« oder etwas Vergleichbares in einer Fremdsprache erwiderte, grundlegende Wendungen, die ich vorher nachgeschlagen

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