Die da kommen
jüngsten Verlusten an der Börse, die ihn zu belustigen scheinen, so als hätte er gar nichts mit der ganzen Sache zu tun. Er betrachtet es als eine Herausforderung, mich zum Lachen zu bringen, und wenn es ihm gelingt, boxt er in die Luft, ruft: »Gewonnen!« und verlangt, dass ich ihm als »Humorsteuer« einen ozuru falte.
Ich arbeite seit fünf Jahren für Phipps & Wexman, und er hat inzwischen dreizehn ozuru im Regal neben dem Familienfoto stehen: Eltern und eine großäugige Schwester mit Ehemann und vier Kindern. Zur Belustigung seiner Besucher tut er gern, als würde er die Origami-Vögel mit Konfetti aus dem Locher füttern.
»Wir müssen noch mal über die ganze Angelegenheit nachdenken«, sagt Ashok. »Tut mir leid, dass ich dich damit behelligen muss, aber Sunny Chen ist tot.« Ich wähle im Geiste ein Blatt Origami-Papier aus. Ich beginne mit einer Froschbasis, dann folgt das doppelte Versenken, danach falte ich eine Blintz-Form. »Bist du noch da, Kumpel? Hast du gehört, was ich gesagt habe? Sunny Chen. Dein Betriebsleiter. Er hat insGras gebissen. Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte, also dachte ich mir, was soll’s. Ich sag’s einfach, wie es ist.«
Ich höre meinen Boss hektisch kauen. Er beißt allerdings nicht ins Gras, so wie Sunny es getan hat. Seit er das Rauchen aufgegeben hat, ist Ashok psychisch abhängig von Kaugummi: In seinem Fall bezieht sich das Beißen auf ein Produkt aus Grüner Minze und Gelatine aus Schweinsfüßen. Sunny Chen ist tot. Manchmal denke ich sehr langsam. Es dauert lange, bis ich es begriffen habe.
»Wann?«, frage ich.
»Heute. Bei uns heute Morgen, bei ihm am Nachmittag. Im Sägewerk. Ich schicke seiner Familie in deinem Namen Blumen. Sie werden es zu schätzen wissen, weil du mit ihm zu tun hattest.«
Ich falte im Geist auf Hochtouren mein Papier. Ich muss wirklich aufgewühlt sein. Wenn Kaitlin mich jetzt sehen könnte, würde sie mich nicht als »Roboter aus Fleisch« bezeichnen. Eher als extrem schnellen Geher. Sunny Chen in Overall und weißem Helm, der mich durch die Fabrik führte. Sunny Chen, der im Restaurant so verschwenderisch mit dem Salz umging und die Sojasoßenflasche wie eine Gießkanne benutzte. Sunny Chen vor den Schreinen, wie er sein Ebenbild verbrannte, das ich ihm aus Höllengeld gefaltet hatte, und über schlecht gekleidete Ahnen sprach, die Insekten aßen. Sunny Chen mit Tränen in den Augen. Wie ich mich abwandte und zu dem gelbblauen Bus hinüberblickte und dann eine Gottesanbeterin faltete. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten oder was ich fühlen soll. Vielleicht fühle ich gar nichts.
Natürlich fühle ich etwas. Die üblichen Verdächtigen: Verwirrung und Überlastung.
Eigentlich sollte Martin Yeh sterben. An Krebs. Nicht aber Sunny Chen an – an was? Einem Herzinfarkt. Natürlich. Ichsehe die Da-Vinci-Zeichnungen vor mir. Eine verstopfte Arterie, eine verkrampfte Herzkammer.
»Wie ist es passiert?«
Ich höre, wie Ashok tief Luft holt. »Tut mir leid, dich damit zu belasten – aber der Typ hat sich umgebracht.« Er hält inne. »Selbstmord.« Ich muss wohl irgendein Geräusch von mir gegeben haben – ein Seufzen oder Schluchzen oder Stöhnen. »Alles klar mit dir?«
»Nein.«
»Mein Gott, wie gesagt, es tut mir leid. Lass dir Zeit, mein Freund.«
»Ja.« Eigentlich sind wir keine Freunde. Eher Kollegen.
Ich bleibe stehen und beginne mit dem Oberkörper zu schaukeln. Mein Herzschlag verändert sich. Ich schaukle stärker. Es könnte mich überwältigen.
»Woher weißt du, dass es Selbstmord war?«, frage ich schließlich.
»Offenbar hat es Zeugen gegeben. Und Aufnahmen von einer Überwachungskamera. Außerdem hat er seiner Frau eine Nachricht hinterlassen. Ach, Mann. Tut mir leid, es dir so sagen zu müssen. Irgendwie wäre ich gerne bei dir. Könnte dir einen ausgeben oder so. Mein Beileid aussprechen.« Ich drehe mein Gesicht in den Wind und atme die feuchte Luft ein. »Was sagt dir dein Bauchgefühl?«
Ich habe kein Bauchgefühl, das habe ich Ashok mehr als einmal erklärt. Er nennt mich pedantisch. Außerdem bezeichnete er mich als »internen Außerirdischen«, obwohl er betont, »ich meine das liebevoll, mein Freund«. Aber ich habe Instinkte. Sie sind anders als Bauchgefühle, ein Bestandteil des deduktiven Prozesses, das unterbewusste Erkennen von etwas, das das Bewusstsein noch nicht verarbeitet hat. Ein Trick des Verstandes. Aber ein nützlicher.
Dass Sunny Chen ein unglücklicher Mensch war,
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