Die da kommen
haben, schalte ich das Handy aus und atme die dunkle, gesättigte Luft ein. Hier und dort gibt es Schafe, weiße Flecken in einer Düsternis aus zerdrücktem Farn und Heidekraut. Ich drehe mich um und kehre zum schwarzen Granitfelsen zurück, der die Wende des Schafpfades markiert. Über mir segeln Möwen dahin.
»Sunny Chen ist tot. Sunny Chen ist tot. Sunny Chen ist tot.«
Wenn ich etwas laut genug sage, klingt es offiziell, und dann beginne ich, es zu glauben. Ich gehe schneller, stelle mir den Stofflöser vor und die Holzspäne und das Sägemehl im Container darunter, und alles ist rot gefleckt von Sunny ChensBlut. Sunny Chen, zu Hamburgern zermalmt. Ich muss den ganzen Prozess mit ihm durchgehen. Ich weiß nicht, wieso. Nicht nur einmal, sondern wieder und wieder, mit seinem Herzen und seinen Da-Vinci-Aorten und Herzkammern, die von den surrenden Klingen durchschnitten werden, und dem karminroten Blut, das an die Edelstahlwände der Maschine spritzt.
Als ich Sunny Chen zum ersten Mal nach dem Informanten fragte, sagte er: Am liebsten würde ich ihn eigenhändig umbringen. Als er später sein Ebenbild verbrannte, signalisierte er, dass er genau das vorhatte.
Es war mir entgangen. Jemand anders hätte es vielleicht bemerkt.
Wahrscheinlich hatte die Polizei in Ermangelung einer Leiche das durchnässte Sägemehl aufgehäuft, um Sunny Chen anhand der DNA zu identifizieren. Vermutlich hatten sie eine ganz normale Schaufel benutzt und das Material zwecks Analyse in einem Ziploc-Beutel verstaut.
Ein unzufriedener Mitarbeiter kann eine Firma durch Sabotage oder schlechte Publicity um Millionensummen bringen. Danach ist eine komplette Umfirmierung erforderlich, vielleicht auch ein Umzug. Letztlich ist Profit das Ergebnis einer engagierten Mitarbeiterschaft. Es wäre absurd zu erwarten, dass alle Mitarbeiter den ganzen Tag lang glücklich sind. Aber wenn einmal die Saat der Unzufriedenheit ausgebracht ist, kann sie sich wie eine ansteckende Krankheit ausbreiten. Mit Sunny Chens Selbstmord hat sich die negative PR deutlich verstärkt.
Bei unserer Begegnung kam er mir nicht tapfer, sondern verzweifelt vor.
Und doch gab Sunny Chen die Informationen weiter und wurde ein internationaler – was?
Ein Star, werden manche sagen. Aber er ist nicht mehr da.Technisch gesehen wäre es korrekter, ihn als »Kometen« zu bezeichnen. Das Protokoll von Phipps & Wexman definiert ihn als Saboteur.
Während er für die Polizei nur noch als rötlicher Brei in einem Beutel existiert, der in einem Kühlschrank gelagert wird – zusammen mit ähnlichen Beuteln, die ebenfalls Teile von Chinesen enthalten und eindeutig nach einem standardisierten Zahlencode nummeriert sind, der jede Probe mit einem polizeilichen Ermittlungsfall verbindet. Jede Disziplin besitzt ihre eigene Methodik, doch so ähnlich stelle ich mir das weitere Vorgehen mit Sunny Chens zermalmten Überresten vor, die irgendwann ihren Weg in einen traditionellen chinesischen Sarg finden werden.
Und dann bringen sie den Körper dazu, dem Verstand nicht mehr zu gehorchen , hatte er gesagt. Die Geister wären in ihn eingedrungen und hätten ihn dazu gebracht, gegen seinen Willen zu handeln. Sie sind von unserem Blut, aber sie hassen uns.
Der Terminus freudsche Fehlleistung beschreibt eine Form der Selbstsabotage, bei der das Unbewusste aus unerfindlichen Gründen zerstört, was das Bewusstsein errichtet hat. Könnte es sein, dass die eine Version von Sunny Chen die Firma Jenwai sabotierte, während die andere beide Augen zudrückte? Und dass er, als er in die Normalität zurückkehrte und sah, was »sie« angerichtet hatten, in Panik geriet und eine solche Reue verspürte, dass Selbstmord der einzige Ausweg zu sein schien?
Ein geistiger Zusammenbruch erklärt sowohl seinen Selbstmord als auch das atypische Verhalten, das dem vorausging. Diese Richtung wird mein Bericht nehmen, um seinen Weg in den Ziploc-Beutel zu erklären. Näher werde ich der Antwort vorerst nicht kommen.
Wäre der Fall Sunny Chen eine Origami-Aufgabe, würde ich die Falten glatt streichen, meinen Fehler suchen und von Neuem beginnen.
Der Mond ist ein dünner, leuchtender Kratzer am Himmel, die Sterne pulsieren schwach über dem Meer. Ich schalte den Computer aus und drehe mich mit dem Stuhl rhythmisch hin und her. Ich höre die Möwen schreien. Ist ein menschlicher Hamburger ein Nahrungsmittel, nach dem sich ein Hungergeist sehnen würde?
3
Irgendwann gegen Ende des 20. Jahrhunderts fand in der Welt
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