Die da kommen
des Origami ein Durchbruch statt. Bis dahin galt es als unmöglich, aus einem einzigen Blatt Papier ein Tier oder eine andere Form mit einem großen Körper und dünnen Gliedmaßen zu falten. Das schränkte die Auswahl der Formen natürlich ein. Ein Insekt mit Fühlern war beispielsweise ausgeschlossen. Doch dank mathematischer Computermodelle, die von dem Physiker und Origami-Künstler Robert J. Lang entwickelt wurden und mit der Idee arbeiteten, das ursprüngliche Blatt Papier in Kreise und die Kreise wiederum in Falten zu unterteilen, kann man so ziemlich jede Form mit Ausbuchtungen falten. Einen Tausendfüßler. Heuschrecken bei der Paarung. Einen Seeigel mitsamt Stacheln. Oder Langs berühmten Einsiedlerkrebs, an den ich mich jetzt wage.
Das einseitig beschichtete Kozo-Papier, für das ich mich entschieden habe, ist hart, aber dünn. Der Farbton: Indisches Veilchen mit schwarzen Punkten. Ich habe damit angefangen, als ich hergezogen bin, jetzt ist der Krebs zu einem Drittel fertig. Für diese Aufgabe benötigt man Büroklammern und eine Pinzette.
Insgesamt bin ich froh, dass ich den Taiwan-Bericht überarbeiten muss. Nach Chens Selbstmord können einige seiner kryptischen Verhaltensweisen – die dunklen Andeutungen bezüglich des »Drucks«, die intensive Beschäftigung mit dem Handabdruck, das Gerede von den Ahnen – als Symptome seinesZusammenbruchs gedeutet werden. Meine eigene Schuld ist jedoch etwas anderes. Ich habe noch nie jemanden gekannt, der Selbstmord begangen hat. Werde ich den Rest meines Lebens brauchen, um das zu verarbeiten? Ich weiß es nicht.
Wenn Freddy hier wäre, würde er sagen: »Noch nicht«, wie es unsere Spielregel bei Wissenslücken verlangt. Wenn einer von uns sagte, er wisse etwas nicht, musste der andere »noch nicht« erwidern. Dann lieferte der andere – meistens ich – die fehlende Information, oder wir schlugen sie gemeinsam nach oder spekulierten einfach.
Aber das hier ist unerforschtes Terrain.
Es ist Dienstag, der 18. September. Mein Laptop verrät mir, dass weiterer Regen und Höchsttemperaturen von zwölf Grad zu erwarten sind. Nachdem ich zwei Stunden am Einsiedlerkrebs gearbeitet und dabei Dvořák gehört habe, unterbricht mich das Klingeln von Skype.
Anrufer: Ashok Sharma, Phipps & Wexman. Uhrzeit: 08.18.
Das ist früh für Ashok. Ich bin versucht, mich nicht zu melden, doch das geht nicht. Nachdem die Sache mit Kaitlin bergab ging, habe ich dafür gekämpft, zu Hause arbeiten zu dürfen. Letztlich stimmte Ashok zu, unter der Voraussetzung, dass er mich jederzeit erreichen kann. Ich stelle Dvořák leise und melde mich. Ashok sieht müde und zerzaust und etwas blasser aus als sonst. Ich konzentriere mich auf den Türgriff hinter seinem linken Ohr. Ich schaue Menschen nicht in die Augen, verstehe mich aber darauf, das zu verbergen.
»Bist du da, Kumpel?«
»Ja. Ich arbeite am Einsiedlerkrebs.« Ich halte ihn hoch, damit er ihn sehen kann.
»Cool, Mann. Hör mal, die Sache wird seltsam. Es ist schon wieder passiert.«
»Was?«
»Noch ein Fall wie der von Chen. Sabotage gefolgt von Selbstverletzung, diesmal in der Finanzwelt. Ein Angestellter von Svenska Banken, einer schwedischen Bank. Ein Klient von uns.«
Ich lege den Einsiedlerkrebs wieder auf den Tisch. »Weiter.«
»Ein Typ namens Jonas Svensson.«
»Ashok, Ashok, Ashok. Skandinavische Sprachen haben ein weiches J, anders als im Englischen.«
»Egal. Die gute Nachricht ist, dass unser Freund Jonas, der mit dem weichem J, noch lebt. Aber nur so gerade. Sie haben ihm den Magen ausgepumpt. Und ihn ins Koma versetzt. Wenn er aufwacht – womit morgen oder übermorgen zu rechnen ist –, musst du mit ihm reden.«
»Was hat er getan?«
»Kaffee-Termingeschäfte absichtlich versaut. Hat die Bank Millionen gekostet. Er hat es nicht abgestritten, wollte aber nichts erklären. Oder konnte es nicht. Ich habe dir die Einzelheiten gemailt.« Belinda Yates, Ashoks persönliche Assistentin, erscheint mit einer dampfenden Tasse im Bild und stellt sie neben ihn auf den Tisch. »Danke, Baby.« Er steckt sich ein Nikotinkaugummi in den Mund und zeigt auf mich. »Okay. Dein Wunsch ist mir Befehl. Was würde dich glücklich machen?«
Freddy, denke ich. Freddy hier bei mir. Aber ich sage es nicht, weil es mit der Angelegenheit nichts zu tun hat. »Ich möchte den Abschiedsbrief von Sunny Chen lesen.«
»Die Polizei in Taiwan sagt, das hätte keinen Sinn«, antwortet Ashok. Ich sehe den weißen Klumpen in seinem
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