Die da kommen
sich die Eltern ungezogener Kinder fragen, was sie in der Erziehung falsch gemacht haben, konzentriert man sichnicht auf die Taten des Kriminellen, sondern darauf, wie die schwedische Gesellschaft sie von vornherein hätte verhindern können.
Am Morgen nach meiner Ankunft in Stockholm stelle ich fest, dass Jonas Svenssons Boss Lars Axel in dieser Hinsicht ein klassischer Schwede ist. Er verlangt unbedingt und verzweifelt nach einer Erklärung für Svenssons unerklärliche Tat und das Leid, das zu dieser Tat geführt haben muss. Die Familien Svensson und Axel sind befreundet. Sie haben zusammen Langlauf gemacht.
Von Axels Büro aus blickt man auf einen großen, eleganten Platz. Die Wände sind weiß gestrichen und die Möbel schwarz bis auf eine Lampe, deren Metallton ich als Herbstgelb von Weathershield aus dem Jahre 2011 identifiziere.
»Wir haben einen entspannten Umgangston in unserer Organisation. Und wir sind offen«, sagt er, lehnt sich in seinem Sessel zurück und schiebt die Haare nach hinten, wobei ein starker, majestätischer Schädel zutage tritt, der im Kontrast zu den eher zarten Gesichtszügen steht. »Falls Jonas ein Problem mit Kaffee-Termingeschäften oder was auch immer hatte, hätte er es mir doch sagen können.«
»Vielleicht wusste er nicht, wie er es hätte formulieren sollen.«
Er zuckt mit den Schultern. »Er muss irgendwie neben sich gestanden haben, er war nicht er selbst. In einem solchen Ausmaß Sabotage zu begehen, wo er doch immer so hart gearbeitet hat, und sich dann töten zu wollen …« Er verstummt, als wäre er erschöpft, und betrachtet seine Hände. Ich denke wieder an Sunny Chens freudsche Fehlleistung. Ein seltsamer Vorfall ist eine Sache. Zwei sind der Anfang eines Venn-Diagramms. »Er wollte danach nicht mit mir sprechen und hat mich regelrecht gemieden. Ich weiß nicht, was andiesem Punkt in ihm vorging. Als es herauskam, hat er sich wohl geschämt. Zumindest war er durcheinander.«
»Gibt es keine Erklärung?«
»Zumindest keine sinnvolle.«
»Erzählen Sie sie mir trotzdem.«
»Annika, seine Frau, sagt, er habe behauptet, man habe ihn dazu genötigt. Aber wer sollte ihn nötigen?, habe ich sie gefragt. Hier bei der Arbeit sind wir alle eine große Familie, es ist ganz zwanglos.« Seine Stimme bricht. »Sie hat gesagt, es seien Kinder gewesen. Kinder! Er muss einen Zusammenbruch erlitten haben.« Er schluckt und rutscht auf seinem Stuhl herum, sodass ich sein Gesicht zu drei Vierteln sehen kann. Er kämpft mit sich, hat Tränen in den Augen. »Sein Sohn ist achtzehn. Sie haben ein gutes Verhältnis. Er würde ihn nie schikanieren oder seine Freunde zu so etwas bringen. Und was wissen Kinder schon über Terminmärkte? Das interessiert sie doch gar nicht. Hesketh, es tut mir so leid. Ich …«
Lars Axel hat angefangen zu weinen. Gewaltige Schluchzer lassen seinen Körper erzittern. Er beugt sich vor und vergräbt sein Gesicht in den Händen. Rasch falte ich im Geist Papier. Ich weiß, ich sollte etwas anderes tun, bin aber ratlos. Bevor ich überhaupt anfangen kann, mir die richtigen Verhaltensregeln für diese Situation zu überlegen, ist er aufgesprungen und aus dem Büro gegangen, wobei er hemmungslos weint. Durch die Glasscheibe sehe ich, wie eine Kollegin ihn zu trösten versucht. Ein Mann kommt dazu. Sie führen ihn gemeinsam und mit großer Sanftheit weg.
Ich bleibe noch lange sitzen. Dann öffne ich die Aktentasche, nehme Origami-Papier heraus und wähle ein Blatt in klassischem Elfenbein.
Die japanische Tradition verlangt, dass man dem Gastgeber beim ersten Besuch ein Geschenk überreicht. Ich bin ebenso wenig ein Japaner wie Lars Axel, aber ich denke: Er wird verstehen,dass ich mit dieser Geste seinen Schmerz und mein Bewusstsein dafür ausdrücken möchte, die Erinnerung an einige unangenehme Augenblicke, die wir geteilt haben. Ich weiß, dass Sunny Chen seine Gottesanbeterin zu schätzen wusste. Ich falte eine Lotusblume und lege sie vorsichtig auf den Schreibtisch. Das ist wohl kein großer Trost. Mir ist klar, dass ich in diesem Bereich nicht sehr talentiert bin, anders als Lars Axels schwedische Kollegen. Aber ich bin auch kein »Roboter aus Fleisch«.
Dann gehe ich.
Sorgfältig gehe ich die Finanzunterlagen noch einmal durch und sortiere sie je nach Relevanz in Stapel. Ich lese mehr über die freudsche Fehlleistung, was mich zur medizinischen Beschreibung des psychogenen Zustands der dissoziativen Fugue führt, bei dem sich ein Teil des
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