Die da kommen
hoch in die Luft schwingen oder maß seine Kräfte mit mir. Wir machten Armdrücken und dachten uns ein Spiel aus, bei dem man mit Kissen warf und das Kaitlin als »alltägliche Gewalt« bezeichnete. Er war förmlich ausgehungert nach männlicher Gesellschaft.
Ich baute einige Regale für meine Sachen auf, faltete Kaitlin eine Rose in Kawasaki-Hochrot mit einem Stängel und Blättern in Dschungel-Khaki und zog bei ihr ein.
Nach einer weitverbreiteten Theorie verliebt sich eine Frau immer in zwei Männer: in den Mann, der er tatsächlich ist, und in den Mann, den sie aus ihm machen möchte.
Schon bald wurde klar, dass ich dieser Mann nicht werden konnte.Inzwischen habe ich die Finanzunterlagen von Svenska Banken ausreichend studiert, um mir darüber klar zu werden, dass der kostspielige Sabotageakt Jonas Svensson ganze fünf Anschläge auf der Computertastatur gekostet hat. Ob er sich nun in einem dissoziativen Zustand befand oder nicht, es kann nicht länger als acht Sekunden gedauert haben. Eher drei. Das werde ich morgen überprüfen und ihn entsprechend befragen.
Zufrieden mit meinem Erfolg, gönne ich mir zur Entspannung den letzten Teil einer Dokumentation auf BBC World, in dem es um Napoleons Pyrrhussieg in Moskau im Jahre 1812 geht. Es folgen die Spätnachrichten. Ein verstörender Mord hat Frankreich erschüttert. Ein Junge von nicht einmal zehn Jahren hat in einem Wald aus kürzester Entfernung auf seine beiden Onkel geschossen. Einer starb, der andere überlebte schwer verletzt. Er benutzte das Gewehr seines Vaters. Sie waren auf Wildschweinjagd. Es war kein Unfall: Acht Zeugen, darunter der Vater und einige Cousins, haben die Tat beobachtet. Es gab kein offenkundiges Motiv. Es ist nicht überraschend, dass man den Fall mit dem Kind aus Harrogate in Verbindung bringt, das inzwischen als Pyjama-Mädchen bekannt ist.
Für mich aber bleibt sie Kind Eins. Und der französische Junge ist Kind Zwei.
Meine Beine zucken die ganze Nacht.
4
Als Ashok mich am Morgen über Skype anruft, ist das Bild unscharf. Er sieht irgendwie kubistisch aus, was zu ihm passt. Wann immer ich an die Kubismus-Bewegung denke, denke ich vor allem an Georges Braque, weil er mir von allen Anhängern als der mathematisch Bewussteste erscheint.
»Wie ist es in Schweden?«, will Ashok wissen. Mein Bildschirm sagt mir, dass es 9.12 Uhr Ortszeit ist. Donnerstag, der 20. September. Das war der Geburtstag meiner Mutter. Sie wäre heute einundsiebzig geworden.
»Sieh selbst.« Ich drehe meinen Laptop so, dass er vom Fenster aus auf das Wasser blicken kann, wo Schiffe, Fähren und kleinere Boote in der tief stehenden Sonne schimmern. »Laut Wettervorhersage wird es heute bewölkt mit leichten Schauern und Höchsttemperaturen um zwölf Grad.«
»Wunderbar«, sagt er. »Da muss ich hin. Was hast du vor, Maestro?«
»Ich hatte Sex mit einer Demografin.« Das weckt ihn auf.
»Na ja, sie nennen dich nicht umsonst den Muschimagneten. Ist sie Schwedin? Hab gehört, die sollen richtig heiß sein.«
»Deutschschweizerin. Besucht eine UNO-Konferenz über die Bevölkerungskrise. Was sollte man tun, wenn jemand weint?«
»Du hast sie zum Weinen gebracht? Du großer, verrückter Herzensbrecher!«
»Nein, ich spreche von Jonas Svenssons Boss. Lars Axel. Er hat geweint, als ich ihn befragt habe.«
»Was hat er gesagt?«
»Nicht viel. Er hat geweint. Was macht man, wenn es sich um einen Mann handelt?«
»Meine Güte, Hesketh. Dasselbe wie bei einer Frau. Man tätschelt ihm den Arm oder drückt seine Schulter oder seine Hand, man kann ihn auch in den Arm nehmen. Dann sagst du ihm, du verstehst, dass es sich um eine schwierige Situation handelt, und schlägst ihm vor, zu einem späteren Zeitpunkt miteinander zu reden. Hast du irgendwas davon gemacht?«
»Nein. Aber seine Kollegen. Er ist weinend aus dem Zimmer gegangen, also habe ich ihm eine Lotusblume gefaltet. Später hat seine Assistentin angerufen und sich entschuldigt.«
»Okay. Ich habe eben mit Svenssons Ehefrau Annika gesprochen. Eine sehr würdevolle Dame. Sie sagt, du könntest Jonas heute Morgen im Krankenhaus besuchen. Sie wird auch dort sein. Allerdings könne sie nicht garantieren, dass er etwas Sinnvolles von sich gibt. Seit er aus dem Koma erwacht ist, scheint er verwirrt zu sein. Nervenzusammenbruch, was auch immer. Sieh zu, was du herausfindest. Übrigens, nette Geste mit der Lotusblume.«
Nachdem er sich verabschiedet hat, denke ich verwundert über seine Bemerkung nach. Die
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