Die da kommen
alten Stock. Manche waren kleiner wie … wie ein Pfefferkorn oder ein Ameisenhintern.«
»Freddy K, es heißt nicht ›kleiner wie‹ sondern ›kleiner als‹. Haben sie gut geschmeckt?«
» Njet. Knusprig. Ein bisschen sauer. Und sie riechen komisch.«
»Was hast du denn sonst noch gemacht, außer Asseln zu essen?«
»Sachen aus Pappmaschee. Mama sagt, ich könnte dein Origami-Papier dafür nehmen.«
»Klar darfst du das. Ich hatte mir überlegt, dir ein neues Lego-Modell zu kaufen. Ein großes, das wir zusammen bauen können.«
»Cool. Ein Schiff.«
»In Ordnung. Ich besorge dir eins. Wie läuft es in der Schule?«
Ich höre ein Geräusch im Hintergrund, und er verschwindet kurz. Als er zurückkommt, klingt seine Stimme anders. »Mama ist hier … Sie sagt, sie kann nicht reden, ihre Hände sind schmutzig.« Ich höre, wie sie zischt: »Wer ist das?« Er sagt es ihr. »Sie sagt, sie ruft dich zurück … Ich muss mir jetzt das Gesicht waschen und die Zähne putzen, wegen der Asseln.« Seine Stimme hat sich verändert. Er entgleitet mir.
»Freddy K …« Ich schaukle stärker. »Denk an ›als‹ und ›wie‹. Beim Komparativ steht immer ›als‹.«
Ich höre, wie seine Mutter in einem besonders scharfen Ton seinen Namen ausspricht, und er sagt: »Ich muss Schluss machen. Tschüss, Hesketh.« Dann legt er auf.
Ich prüfe noch einmal die Akte Svensson und liste im Geiste die Fragen auf, die ich ihm und seinen Ärzten stellen will.Kaitlin ruft nicht zurück. Freddy fragt sie bestimmt wegen mir aus. Er wird wissen wollen, weshalb wir einander nicht sehen dürfen, und sie wird sich eine neue Lüge ausdenken, die sie damit rechtfertigt, dass es eine Notlüge ist.
Bevor ich ging, haben wir uns wegen Freddy gestritten.
»Ich bin der einzige männliche Erwachsene, mit dem er jemals regelmäßigen Kontakt hatte«, habe ich gesagt. »Er betrachtet mich als seinen Vater.«
»Genau das ist das Problem.«
»Willst du ihm jetzt einfach einen neuen suchen?«
Sie sagte nichts. Ich stellte im Geiste ein Ablaufdiagramm auf und gelangte zu dem Schluss, dass genau das vielleicht schon passiert war.
Es ist sechs Uhr, und ich bin in die Hotelbar gegangen, wo eine Frau alleine herumsitzt und Weißwein trinkt. Sie blättert in einer Zeitschrift für Demografie. Das erregt meine Aufmerksamkeit – zum einen, weil die Bevölkerungsverteilung ein faszinierendes Fachgebiet ist, und zum zweiten, weil es eine deutsche Zeitschrift ist und ich diese Sprache halbwegs passabel spreche. Da ich die Gelegenheit nutzen will, diese Sprache zu üben, stelle ich mich der Frau auf Deutsch vor, und wir kommen ins Gespräch. Sie erzählt mir, sie sei Wissenschaftlerin und besuche eine Konferenz über statistische Prognosen, die im Zuge der jüngsten UNO-Warnung stattfindet. Sie trägt den Titel Der perfekte Sturm: Klima, Hunger und Bevölkerung . Sie zeigt mir einen Graphen, dessen Wachstumskurve ich kenne: Sie gilt für jede biologische Spezies ohne nennenswerte Feinde und mit begrenzten Ressourcen. Ich frage sie, wann das exponentielle Wachstum ihrer Ansicht nach durch Stagnation und durch eine Todesphase abgelöst werde. Sie erwidert, damit sei vermutlich spätestens 2100, möglicherweise aber noch vor 2050 zu rechnen.
»Die menschliche Zivilisation steht mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit vor einem Kollaps, wenn das Bevölkerungswachstum nicht kontrolliert wird. Wir sind eine außer Kontrolle geratene Spezies. Ist Ihnen bewusst, dass sich die Weltbevölkerung während meiner eigenen Lebenszeit mehr als verdoppelt hat?«
Ich rechne rasch im Kopf. Sie dürfte um 1960 geboren sein. »Dann wären Sie um die fünfzig.« Ihr Blick verändert sich. »Das ist in Ordnung. Ich mag ältere Frauen.«
Obwohl sie keine sonderlich ausgeprägten Gesichtszüge hat, an denen man sie wiedererkennen könnte, ist sie recht attraktiv. Ich hatte seit zweihundertsechzehn Tagen keinen Sex, und ganz plötzlich überkommt mich der Drang dazu. Also stelle ich zum Aufwärmen einige persönliche Fragen, wo sie wohnt und so weiter. Ich erfahre, dass sie in Genf lebt, aber viel auf Reisen ist und deshalb keinen Hund halten kann, obwohl sie gern einen hätte. Ich frage, welche Rasse, und sie sagt, einen King Charles Spaniel. Ich berichte von meinem noch nicht getauften Fisch. Als ich sie frage, ob sie mit mir auf mein Zimmer gehen möchte, versteht sie sofort, was ich meine, gibt sich aber »ein bisschen überrascht« und schlägt vor, erst mal noch etwas
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