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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
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Lotusblume ist eine mehrjährige Pflanze, die in Höhen bis zu sechzehnhundert Metern aus einem dicken Wurzelstock wächst. Sie ist fast gänzlich essbar und wird in manchen östlichen Kulturen als Symbol der Reinheit oder des Strebens des menschlichen Geistes nach einem Zustand der Erleuchtung betrachtet. Hatte Ashok diese Symbolkraft im Kopf gehabt, als er von »einer netten Geste« sprach? Wenn ja, hat er sich geirrt. Ich habe für Lars Axel eine Lotusblume gefaltet, weil ich neben dem ozuru eine Palette von zwölf Grundmodellen nach einem Rotationsprinzip abarbeite und Modell Nummer acht an der Reihe war.Draußen verhüllen Altocumulus- und Cirrocumulus-Wolken den Himmel. Ich gehe in vierzehneinhalb Minuten vom Hotel zum Krankenhaus. Es handelt sich um ein modernes, achtstöckiges Gebäude mit polierten Böden. Es gibt einen riesigen Innenhof mit einer bronzenen Löwenskulptur, umgeben von gläsernen Aufzügen. Es hat nicht den krankhaften, klaustrophobischen Geruch britischer Krankenhäuser, die ich während des körperlichen Verfalls meiner Eltern besucht habe oder später, als Mrs Helena Whybray im Sterben lag und ich den Professor begleitete, damit er »sich besser im Griff hatte«. Hier sieht es aus, als würden sich die Leute rasch erholen, als würden kaputte Körper repariert und von hochwertigen Maschinen versorgt. Am Empfang erfahre ich, dass man Jonas Svensson in die psychiatrische Abteilung verlegt hat, wo er noch untersucht wird. Falls er eine Gefahr für sich und andere darstellt, wird er in eine andere Einrichtung gebracht. Falls nicht, darf er nach Hause.
    Svensson hat ein Einzelzimmer, zu dem mich ein schwarzer Krankenpfleger mit Stammesnarben im Gesicht führt. Draußen sitzt eine Frau in seltsamer Haltung, geduckt wie ein ozuru. Annika Svensson ist etwa Mitte fünfzig und ziemlich faltig. Sie trägt eine Jacke in einem Grün, das mir gefällt: Bambus Classic. Als sie mich sieht, steht sie auf, sie hat lange Gliedmaßen und scharnierartige Gelenke. Meine Größe erweist sich oft als nützlich, um Blickkontakt zu vermeiden, doch nicht bei ihr: Sie ist außergewöhnlich groß, sodass ich mich auf ihren Ohrring konzentriere und sie auf Schwedisch begrüße. Menschen sind immer froh, wenn man sie in ihrer eigenen Sprache anspricht, selbst wenn die Kenntnisse nicht über das hinausgehen, was man aus einem Wörterbuch oder Sprachführer gelernt hat. Annika Svensson hat zweifellos geweint, und ihre linke Wange ist leuchtend rot. Sie merkt,dass ich es gesehen habe, und legt die Hand darauf. Sie hat sehr lange Finger.
    »Wie geht es Ihrem Mann? Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn wir Englisch sprechen.«
    »Ich bin vor einer Minute hineingegangen, und er hat mich ins Gesicht geschlagen. Das hat er noch nie getan.«
    Unvermittelt hören wir durch die Tür einen Mann schreien und eine Frauenstimme, die ihn zu beruhigen sucht.
    »Was sagt er?« Ich habe nur ein Wort aufgeschnappt: fan , das heißt Teufel. Im Vergleich zum Angelsächsischen sind nordische Schimpfwörter sehr zahm, deshalb importieren die Skandinavier auch Begriffe wie fuck und shit , die sie verschwenderisch und mit sehr viel weniger Zurückhaltung als englische Muttersprachler verwenden.
    »Alles Unsinn«, antwortet sie. »Als wäre er wieder zum Kind geworden. Er sagt, Kinder hätten ihn dazu gezwungen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Das ist nicht der Jonas, den ich kenne. Er war nie gewalttätig. Niemals. Er ist ein anderer Mensch geworden.«
    »Kann ich reingehen?«
    »Fragen Sie Dr. Aziz. Sie ist bei ihm. Aber halten Sie sich von ihm fern, er ist sehr stark.«
    Ich klopfe an. Niemand antwortet, also trete ich ein.
    Eine junge schwarzhaarige Frau, bei der es sich vermutlich um Dr. Aziz handelt, steht am Fenster und spricht sehr schnell in ein Telefon. Sie wirkt verzweifelt, und ich sehe auch, warum: Jonas Svensson sitzt auf dem Bett und trägt nichts als eine Sonnenbrille. Auf dem Foto, das ich in der Bank gesehen habe, war er mit einem dezenten grauen Anzug bekleidet. Und man konnte seine Augen sehen: blau, wie die seiner Frau. Die Brille erinnert an eine Skibrille mit verspiegelten Gläsern. Für solche Begegnungen bin ich nicht geschaffen. Seine nackte Haut ist fast durchsichtig wie die einer Made undvon blauen Adern durchzogen. Das blasse Haar auf seinen Gliedmaßen und im Genitalbereich glänzt im Sonnenlicht. Sein Penis liegt schlaff auf seinem Oberschenkel. Er hat einen kleinen Bauch. Auf dem Boden liegt ein

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