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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
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Intervention gewesen sein. Abergläubische Überzeugungen entstehen aus der unbewussten Entscheidung, angesichts des Unvorstellbaren zu fabulieren.
    Etwas, das ich niemals könnte.
    »Weshalb Sie sich entschieden haben, es zu studieren«, sagte Professor Whybray, als ich ihm von meiner Entscheidung berichtete.
    Er hatte meistens recht.
    Um 10.30 Uhr fahre ich zusammen mit Jan de Vries in einem klapprigen Baustellenaufzug in den 31. Stock eines halb fertigen Wolkenkratzers. Der Mann riecht nach abgestandenem Bier, was sein Aftershave nur unzureichend überdeckt, und erzählt mir von seinem Boss Ahmed Farooq: Ahmed Farooq, der tot ist, der Rattengift geschluckt hat, weil ihn ein Dschinn mit dem Aussehen eines kleinen Bettlers angeblich dazu gebracht hat, und der deshalb unter fürchterlichen Qualen gestorben ist, so wie Gustave Flauberts fiktionale Antiheldin Madame Bovary.
    Das symbolische Alkoholverbot in Dubai macht die meisten westlichen Einwohner zu mäßigen Trinkern, aber ich habe gelesen, dass es immer noch zahlreiche Alkoholiker gibt. Angesichts des Biergeruchs in seinem Atem vermute ich, dass der blonde, rothäutige Mr Jan de Vries zu Letzteren gehört.Sein südafrikanischer Akzent ist sehr stark. Er spricht mich ständig mit »Mann« an. Er kommt aus Kapstadt, wie er mir auf der langsamen Fahrt im Aufzug erzählt.
    De Vries und ich steigen aus, als wir im 31. Stock des werdenden Wolkenkratzers zitternd zum Stehen kommen. Die Baustelle ist dem Sonnenlicht ausgesetzt, es gibt kaum Schatten. Ich zähle sechsundzwanzig dunkelhäutige Arbeiter in dünnen Shirts und Helmen, die in drei verschiedenen Bereichen arbeiten. Viele sind klein und drahtig, vermutlich aus Sri Lanka. Andere sehen eher pakistanisch aus. Elf schütten Zement und Sand in eine Reihe von Betonmischern, während die übrigen Arbeiter Gerüste auf- und abbauen. Beton hat einen ganz eigenen Geruch, der sich hier in verschiedenen Formen bemerkbar macht: als unverarbeitetes Pulver, mit Sand gemischt, nass, feucht, trocken und gehärtet. Dieser Teil des Stockwerks liegt dank einer aufgespannten weißen Plane im Schatten. Doch Jan de Vries stellt sich lieber in die Sonne, was mir grotesk erscheint.
    Ich schätze die Temperatur auf knapp fünfzig Grad.
    De Vries winkt einem Mann zu, der ein Stück von den anderen entfernt steht und ein Diagramm betrachtet. »Der Vorarbeiter«, sagt er. »Aus Pakistan.« Der Vorarbeiter winkt zurück. »So, Hesketh, riskieren Sie mal einen Blick.« De Vries deutet auf die Kante.
    »Geht nicht. Mir wird schwindlig.«
    »Schade. Ist schon toll.« Er schlendert zur Kante, lehnt seinen fleischigen Körper ans Geländer und betrachtet das Panorama. Ich trete ein bisschen näher, damit ich hören kann, was er sagt, aber nicht so nah, dass ich nach unten schauen kann. Das Geländer besteht aus Aluminium und dürfte glühend heiß sein, aber er scheint es nicht zu bemerken. Seit wir uns getroffen haben, hört er nicht auf zu reden.
    »Ahmed war ein gottverdammtes Juwel, das kann ich Ihnensagen«, setzt er das Thema fort, mit dem er im Aufzug begonnen hat. »Das war aber nicht der Ahmed, den ich kenne. Er hatte nichts, aber auch gar nichts mit dieser verdammten Geschichte zu tun, Mann. Ich meine, er war kein Saboteur, nie und nimmer. Außerdem, Rattengift, was ist das für eine Scheiße, Mann? Wenn er es schon machen musste, was spricht gegen Valium oder Paracetamol?« De Vries gehört zu den Männern, die aggressiv werden, wenn etwas sie erschüttert. Er streckt seinen dicken, muskulösen Arm aus, um mir »die fantastischste Stadt der Welt« zu zeigen. »Sie wächst und wächst einfach immer weiter. Warum auch nicht? Ist Ihnen klar, dass wir über die fortschrittlichste Entsalzungstechnologie der Welt verfügen?«
    »Nein«, sage ich. Aber es überrascht mich nicht.
    De Vries spricht so schnell, dass ich mich konzentrieren muss. Seine Augen sind hinter einer sehr dunklen Sonnenbrille verborgen, die fest auf seinem Nasenrücken sitzt und sich tief ins Fleisch gräbt. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihm praktisch von den Lippen ablese, indem ich mich auf die schnellen Bewegungen seines fleischigen Mundes konzentriere. Der Schnurrbart darüber quillt wie blonde Lava aus den Nasenlöchern. Mir ist schwindlig vom Jetlag.
    »Sicher, wir hatten ein kleines wirtschaftliches Tief und sind ins Trudeln geraten, so richtig, meine ich. Aber schauen Sie, jetzt funktioniert es. Hier funktionieren die Dinge, alles vibriert vor Leben. Ahmed war

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