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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
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angerufen. Er hat die Polizei verständigt.« Sein Handy klingelt. »Entschuldigen Sie mich bitte.«
    Während er spricht, denke ich an Tom und Jerry. Freddy und ich sind Fans der Serie. Wenn bei Tom und Jerry der Körper eines Tieres aufprallt, wird er ganz platt. Im wirklichen Leben passiert das nicht. Wenn ein Gegenstand senkrecht vom Himmel fällt, wird das Tempo bis zu einem gewissen Grad durch den Luftwiderstand verlangsamt. Ich frage mich, ob eine Höhe von einunddreißig Stockwerken ausreicht, um die maximale Geschwindigkeit zu erreichen. Ich stelle mir vor, wie de Vries’ Schädel wie eine Kokosnuss aufplatzt, wie das Gehirn offen daliegt und sich eine gewisse Menge Blut darunter sammelt. Blut dürfte bei dieser Hitze schnell trocknen, es bildet eine Haut wie eine Membran. Die Farben würden die gesamte Bandbreite abdecken: Erdbeerrot, Reinrot, Perlrubinrot, Braunrot, Oxidrot. Wird der Körper von de Vries ebenfalls aufplatzen oder intakt bleiben? Der Tod dürfte im Moment des Aufpralls eintreten. Man benutzt Schweinekadaver, um herauszufinden, was genau bei schweren Unfällen passiert. Manchmal auch menschliche Leichen. Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass Ihr Körper, sollten Sie ihn der Wissenschaft zur Verfügung stellen, womöglich aus großer Höhe hinuntergeworfen wird. Ihnen kann das egal sein, weil Sie schon tot sind. Manche Leute könnten allerdings aus Ekel davor zurückschrecken.
    Oder aus ästhetischen Gründen.
    Der Vorarbeiter hat sein Gespräch beendet.
    »Was ist aus dem kleinen Mädchen geworden?«, frage ich. »Ich kann es nicht mehr sehen.«
    Er weicht einen Schritt zurück. »Was?«
    »Da war ein Kind. Halb so groß wie Sie oder noch kleiner. Das Mädchen hat Jan de Vries erschreckt. Er hat gesagt, sie dürfe nicht herein.«
    Er schaut mich an, doch ich kann seinen Blick nicht deuten. »Hier sind nur Sie und ich und die Arbeiter.« Er nickt zu ihnen hinüber.
    Ich beginne zu zählen. Sie stehen zusammengedrängt und diskutieren heftig miteinander, wobei sie auf die Straße zeigen und auf das Geländer, über das de Vries gesprungen ist. Andere hocken mit gesenkten Köpfen da, sie beten vermutlich. Einer steht abseits, schluchzt und heult. Als ich eintraf, waren es siebenundzwanzig, den Vorarbeiter eingeschlossen. Und ich und de Vries. Macht neunundzwanzig. Dann kam das Mädchen, und de Vries sprang, also müssten wir immer noch neunundzwanzig sein. Wir sind aber nur achtundzwanzig.
    »Sehen Sie?«, fragt der Vorarbeiter.
    »Aber ich weiß, was ich gesehen habe.« Ich zähle noch einmal. Immer noch achtundzwanzig. »Sie stand genau vor mir. Sie hat ein Geräusch gemacht, eine Art Summen. Und sie hat auf de Vries gedeutet. Sie müssen sie auch gesehen haben.« Er leckt sich über die Lippen, sagt aber nichts. Er schwitzt stark. »Gute Muslime lügen nicht. Haben Sie sie nun gesehen oder nicht?« Ich scheine zu schreien.
    Normalerweise schreie ich nie. Ihn würde ich aber am liebsten schütteln.
    Ich packe ihn. Er blinzelt rasch und legt dann seine Hand auf meine. Sanft.
    »Atmen Sie tief durch, Sir. Ruhig. Ganz ruhig.« Er senkt die Stimme. »Na schön, ich werde ehrlich sein. Womöglich war da ein Mädchen. Aber in der Hitze sehen die Leute ja oft irgendwelche Dinge.« Er deutet mit dem Kopf auf die Bauarbeiter. Im Vergleich zu mir sind alle klein, aber keiner ist soklein wie ein Kind. Der weinende Mann wird von den anderen getröstet. Das Kind ist verschwunden und auch die Perspektive, aus der ich es gesehen habe. Oder auch nicht.
    Ich bin verwirrt. Das Ganze hier ist verwirrend.
    Ich sage: »Sie war aber hier. Sie muss auch gesprungen sein.«
    »Nein. Ich habe gerade eben mit dem Boss telefoniert. Nur eine Leiche. Mr de Vries.«
    Er deutet ruckartig mit dem Daumen auf das Geländer. Tief unten dürften sich jetzt Menschen um die große, fleischige Gestalt scharen. Der Baustellenboss, von dem er gesprochen hat. Die Polizei. Von hier aus dürften sie alle wie Ameisen aussehen, die sich um einen großen Krümel versammelt haben.
    »Und wo ist sie?«
    Sein Kiefer mahlt, bevor er spricht. »Sir, wie ich schon sagte, müssen wir uns geirrt haben.« Er stößt es hervor. »Da war kein Kind. Lassen Sie uns runtergehen, Sir. Die Polizei wird zuerst mit Ihnen und mir sprechen wollen. Wegen der Zeugenaussagen. Die Männer warten hier. Sie müssen auch aussagen. Kommen Sie.«
    Der Luftzug dringt durch das Gitter des Baustellenaufzugs. Die langsame, wacklige Fahrt an der Seite des

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