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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
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seines eigenen Arms. Es kommt mir vor, als hätte de Vries einen kleinen Motor in sich, der kaputt ist oder von einer anderen Person nicht korrekt bedient wird.
    Ich bin wohl nicht der Einzige, dem etwas seltsam vorkommt, denn in diesem Augenblick nähert sich ein Arbeiter mit erhobener Hand und gebietet ihm zu schweigen. Die kleine Gestalt unterscheidet sich von den übrigen Arbeitern. Kein Helm. Und lange Haare, die bis über die Schultern fallen. Aus diesem Blickwinkel, der ungeheuer verzerrt sein muss, sieht sie nicht größer aus als ein Kind.
    Ich schiebe einen Moment die Sonnenbrille hoch, doch das grelle Licht brennt in meinen Augen, weshalb ich sie rasch wieder aufsetze. Ich blinzle und schaue noch einmal hin.
    Es ist ein Kind. In Lumpen gekleidet.
    Männlich, denke ich zuerst …
    Aber nein.
    Weiblich.
    Ein kleines Mädchen. In schmutzigen, zerrissenen Kleidern. Ihre dunklen, runden Augen starren de Vries unverwandt an.
    Als de Vries das zerlumpte Kind sieht, hört er auf, seinen Arm abzulecken, holt tief Luft und spuckt ein Wort oder eine Reihe von Wörtern aus, die japanisch klingen: toko-loshi-toko-loshi-toko-loshi. Sein Gesicht verzerrt sich wie das einesSchimpansen, der angegriffen wird, eine furchtbare, flehende Grimasse, bei der er Zähne und Gaumen entblößt.
    »Du kannst nicht herein!«, schreit er. Es ist nicht klar, ob er mit ihr spricht. Und falls ja, was er meint. »Du kommst nicht rein, du Scheißkreatur!«
    Die Augen des Kindes werden schmal. Und dann stößt es, ohne den Mund zu bewegen, ein Geräusch aus: einen hohen, beharrlichen Ton, der zu scharf klingt, um musikalisch zu sein. Ein monotones Summen.
    Warum sollte man ein Kind hier herauflassen? Ist sie die Tochter eines Arbeiters?
    Und dann, während sie noch summt, hält sie die Faust ans Auge und öffnet sie in einer plötzlichen, sternförmigen Explosion, die Handfläche nach außen gekehrt.
    Die Wirkung auf de Vries ist dramatisch: Mit einem scharfen, gequälten Kreischen dreht er seinen großen, gebräunten Körper abrupt herum und wendet mir den Rücken zu. Ein Aufschrei erhebt sich aus der Gruppe der Arbeiter, drängende Rufe ertönen.
    Jan de Vries hält das Geländer mit seinen fleischigen Händen umklammert.
    Er kreischt auch noch, als er seinen massigen Körper hochstemmt – völlig mühelos, wie es scheint – und über das Sicherheitsgeländer springt.
    Es erinnert mich an alte Filme, die in England auf dem Land spielen und in denen Männer über Gatter springen, in einer einzigen fließenden, gymnastischen Bewegung.
    Dann ist er verschwunden.
    Später, als mich der Kriminalbeamte Mazoor befragt, werde ich seinen Todessprung als »überraschend elegant« bezeichnen.
    Er verschwindet sauber und vollständig. Ich bin zu weit von der Kante entfernt, um ihn fallen zu sehen. Nicht dass ich das gewollt hätte.
    Ich bleibe stehen, wo ich bin, und schaukle mit dem Oberkörper.
    Die Männer schreien durcheinander. Dann brüllt einer von ihnen – ich erkenne den Vorarbeiter – einen Befehl. Sie drängen sich zusammen, diskutieren und gestikulieren. Über ihre Schreie hinweg kann ich einunddreißig Stockwerke unter mir das Summen des Verkehrs hören.
    Es gibt Teile in meinem Gehirn, die einfach dumm sind. Langsam und manchmal unfähig, das Offensichtliche zu erkennen. Zu spät kommt mir die Erkenntnis, dass Jan de Vries tot sein muss. Jan de Vries ist tot, Jan de Vries ist tot, Jan de Vries ist tot.
    Ich sinke auf die Knie und umklammere meinen Kopf. Am liebsten würde ich in einen engen Raum kriechen, aber in diesem erbarmungslosen Licht und der Hitze und der sanften, grausamen Brise gibt es keinen solchen Ort. Also bleibe ich, wo ich bin, und schaukle hin und her.
    Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Ich falte im Kopf drei ozuru und schicke sie flatternd in die sengend heiße Luft. Ich schaukle hin und her. Mein Gehirn ist leer. Ich schaukle stärker. Nach einer Weile merke ich, dass mich der Vorarbeiter anschreit und nach unten zeigt.
    Jan de Vries ist tot.
    »Ich habe ihn nicht gestoßen«, sage ich. »Ich habe ihn nicht gestoßen. Ich habe ihn nicht gestoßen.« Ich sage es wieder und wieder und wieder. Ich kann nicht damit aufhören. Ich bin völlig überfordert.
    »Ich weiß«, sagt er und kommt näher. »Beruhigen Sie sich, Sir. Atmen Sie tief durch.« Ein guter Rat. »Ich habe gesehen,wie es passiert ist. Wie er über das Geländer gesprungen ist. Sie waren gar nicht in seiner Nähe, Sir. Ich habe den Baustellenleiter

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