Die da kommen
Begriffe enthalte.
Dann besuche ich die Firmenzentrale und spreche mit mehreren seiner Kollegen – vor allem Europäer, Inder, Amerikaner und Australier –, die alle ihr Entsetzen über den Sabotageakt und den nachfolgenden Selbstmord ausdrücken. Der Begriff »atypisch« fällt dabei achtzehnmal. Nachdem ich Annika Svenssons Trauer miterlebt habe, freue ich mich nicht gerade auf die Begegnung mit Halla Farooq, dränge aber dennochauf ein Gespräch. Doch das wird so entschieden abgelehnt, dass ich schon befürchte, einen Fauxpas begangen zu haben oder dass Eastern Horizons ihre Anspielungen auf »den kleinen Bettler-Dschinn« peinlich sind. Oder beides.
Heute Nachmittag habe ich allerdings einen Termin mit Farooqs unmittelbarem Stellvertreter Jan de Vries, der sich bereit erklärt hat, mit mir über eines der laufenden Bauprojekte zu sprechen, das Ahmed Farooq zum Zeitpunkt seines Todes betreut hat.
Da ich mir bis zu diesem Termin irgendwie die Zeit vertreiben muss, kehre ich ins Hotel zurück, setze mich neben den Infinity Pool – neunzehnter Stock, mit Blick auf die Küste – und lese etwas über die Krise der Teilchenphysik. Seit die Japaner das berühmte Neutrino-Experiment des CERN bestätigt haben, herrscht vor allem auf dem Gebiet der Stringtheorie ungeheurer Aufruhr. »Einsteins Gesetze von Ursache und Wirkung bedeuteten bisher, dass die Zeit sich nur in eine Richtung bewegen kann. Doch dies wird nun infrage gestellt, die Paradoxien nehmen ständig zu«, erklärt ein theoretischer Physiker. »Die Mathematik weiß seit Jahrzehnten, was die Physik gerade erst entdeckt: dass es Dimensionen gibt, die wir nicht sehen können und vermutlich niemals sehen werden.«
Mir gefällt die Vorstellung, doch sie beunruhigt mich auch, denn wie kann man etwas messen, das anscheinend dazu bestimmt ist, unmessbar zu bleiben? Darüber würde ich gerne mit Professor Whybray diskutieren.
Der Artikel endet mit einem Witz:
Wir bedienen keine Neutrinos, sagt der Mann hinter der Theke.
Kommt ein Mann in eine Kneipe.
Ich brauche eine Weile, bis ich ihn kapiert habe. Dann aber genieße ich den cleveren Aufbau, dass man sich an das klassische»Kommt ein Mann in eine Kneipe«-Format hält und es gleichzeitig auf den Kopf stellt. Als der Kellner fragt, was ich trinken möchte, spiele ich mit dem Gedanken, den Witz an ihm auszuprobieren, überlege es mir aber anders, da ich kein geborener Witzeerzähler bin und Angst vor einer Blamage habe: Vielleicht weiß er nicht genug über Teilchenphysik, um ihn zu verstehen.
Ich bestelle eine Cola. Die meisten Hotelmitarbeiter stammen von den Philippinen. Die Männer auf den Baustellen kommen eher aus Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka, Indien oder Afghanistan. Siebenundneunzig Prozent der ständig fluktuierenden Bevölkerung von Dubai sind Ausländer. Folglich dürfte nur ein winziger Prozentsatz von ihnen mit Dschinns vertraut sein: Sie werden ihre eigenen Geister haben. Ich weiß nicht, inwiefern das von Bedeutung sein könnte.
Während die Neutrino-Experimente zeigen, dass es Dimensionen gibt, die wir noch nicht erfassen können, weil sie außerhalb der Membran operieren, in der wir leben, habe ich weder das Konzept des Glaubens begreifen noch die Trennungslinie erkennen können, mit der die traditionellen Religionen ihre eigenen Glaubenssysteme vom Aberglauben jener Menschen abgrenzen, die an Vorfahren, Kobolde, Dschinns, Trolle und andere sagenhafte Manifestationen glauben. Die Anthropologie scheut davor zurück, religiösen und nicht religiösen Glauben nebeneinanderzustellen. Für mich jedoch gibt es keinen Unterschied: Irrationaler Glaube ist irrationaler Glaube, ungeachtet des jeweiligen Bekenntnisses oder des Geldes, das die Anhänger aufbringen können, um ihre Gotteshäuser zu errichten und instand zu halten. Vielleicht bin ich gerade deshalb von Glaubenssystemen so fasziniert, weil ich ihnen gegenüber immun bin. Da ich Menschen studiert habe, die nicht existenten Kräften hörig sind und behaupten, diesesymbolisierten entweder das Gute oder das Böse, weiß ich, dass es immer eine pragmatische Erklärung für ihr Grauen gibt. Oft aber ist es eine, der sie lieber nicht ins Auge sehen möchten. Wenn sich ihr Baby bis zur Unkenntlichkeit verändert, liegt es nicht an dem Schlag auf den Kopf, sondern daran, dass es ein Wechselbalg ist. Wenn sie etwas verlieren, hat es ein Kobold gestohlen. Wenn eine Frau schwanger wird, die angeblich noch Jungfrau ist, muss es göttliche
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