Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
Vom Netzwerk:
stimmt, diskutieren überall auf der Welt Kinder darüber, wie man Menschen tötet. Das kann eine gewaltige Geschichte werden. Sie wird sich ausbreiten und immer weiter zunehmen. In diesem Fall – «
    Ein Schrei schneidet ihr das Wort ab.
    Es gibt Augenblicke im Leben – so wenige, dass man sie zählen kann –, in denen sich die zeitliche Perspektive im wahrsten Sinne des Wortes verschiebt. In diesen Augenblicken kann eine Sekunde eine Minute dauern oder zu einer gefühlten Ewigkeit gefrieren. Soldaten kennen das. Aber auch ein Zuhause kann zum Kriegsgebiet werden.
    Der Schrei ist so grotesk in die Länge gezogen, dass er mehr Luft zu brauchen scheint, als eine menschliche Lunge hergibt. Stephanie springt vom Tisch auf, stößt zwei Gläser um, die klirrend auf dem Boden landen, der Wein spritzt überallhin.
    Schließlich verstummt der Schrei abrupt, es herrscht kurze Stille. Dann brüllt Kaitlin: »Nein! Freddy, tu’s nicht! Nein!«
    Sie kreischt. Man hört jemanden umherkrabbeln, dann einen lauten Aufprall, gefolgt von Schlägen. Dumpfes Hämmern.Wir stürmen in die Diele. Kaitlin liegt auf halber Höhe der schmalen Treppe. Keine Spur von Freddy.
    Stephanie stöhnt: »Oh, mein Gott.«
    Alles an Kaitlin ist verkehrt. Wäre sie Origami, könnte ich die Figur abschreiben.
    Sie ist schräg auf der Treppe eingeklemmt, die Beine in einem seltsamen Winkel gespreizt. Sie ist eitel und würde sich niemals so zeigen, mit ihrem starrenden, weißen Gesicht und dem Haar, das zu einer wirren Wolke mit grauen Streifen geworden ist. Ihre farbenfrohe, ozeanisch angehauchte Kleidung und die Tatsache, dass ihr Rock bis zum Hals hochgerutscht ist, verstören mich. Ihre Augen stehen weit offen, wie hypnotisiert. Sie blinzelt nicht.
    Stephanie stürzt auf sie zu und umfängt ihren Kopf. Sie legt die Finger an Kaitlins Hals und beginnt zu wimmern. Ich will gerade fragen, ob sie tot ist, als mich etwas aufblicken lässt.
    Eine Bewegung oben an der Treppe.
    »Hey, Hesketh.«
    Starr wie ein kleiner Lego-Mann steht dort der Junge, den ich liebe.
    Er hat einen wunden, rosa Heiligenschein um den Mund, weil er sich das Salz von den Lippen geleckt hat. Er scheint nicht zu bemerken, dass seine Mutter reglos ausgestreckt auf der Treppe liegt. Oder dass Stephanie ihren Kopf festhält.
    »Ich hab immer noch Hunger.«
    Ich kann nichts sagen.
    »Ich hab gesagt, ich hab Hunger!«, schreit er. Dann wechselt er zur tiefen Archaeopteryx-Stimme. »Hösköth, öch hob gesogt, öch hob ömmer noch Honger!«
    Es ist ein Befehl.
    Aufgrund der unerwartet hohen Anzahl an Notfällen können wir nur in lebensbedrohlichen Situationen aktiv werden.Bitte überprüfen Sie, ob die Situation, wegen der Sie anrufen, lebensbedrohlich ist. Falls nicht, legen Sie bitte auf. Wenn Sie in der Leitung bleiben, gelangen Sie in eine Warteschleife.
    Ich habe lange genug in diesem Haus gelebt, um zu wissen, was um diese Uhrzeit auf der Straße los ist. Man sieht die letzten Einkäufer nach Hause kommen, die ersten Kinogänger losziehen, ein paar Kinder auf Fahrrädern und Skateboards im Dämmerlicht. Doch als ich diesmal ans Fenster trete, sehe ich nur eine einzige Person: eine dicke Frau, die mitten auf der Straße steht und den Kopf schwerfällig von einer Seite zur anderen dreht. Sie wirkt verzweifelt, orientierungslos oder als hätte sie etwas verloren. Ein Wagen weicht ihr aus.
    Um zu bestätigen, dass Ihre Situation dringend ist, drücken Sie bitte die Raute-Taste. Ich drücke sie und beginne hin- und herzuschaukeln. Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass Scherze oder belanglose Anrufe zu einer Strafverfolgung führen. Bitte bleiben Sie in der Leitung. Narkotisierende Musik erklingt: Ich erkenne die ›Sphärenklänge‹ von Josef Strauss. Falls dieses Stück in beruhigender Absicht ausgewählt wurde, funktioniert das in meinem Fall jedenfalls nicht.
    Ich schalte den Lautsprecher ein, stecke das Telefon in die Tasche, schließe die Augen und suche denselben inneren Panikraum auf, in den ich mich auf der Baustelle in Dubai zurückgezogen habe. Ich weiß nicht, wie lange ich dort drinnen bleibe.
    »Hesketh.« Es ist Stephanie. »Hesketh. Schau mich an.« Ich hole Luft, öffne die Augen. »Hör zu. Ich rufe Felicity an. Meine Schwester. Sie ist Krankenschwester. Bring Freddy nach unten. Sorg dafür, dass er in der Küche bleibt, bis sie kommt.«
    Ja. Freddy ist kein Fremder oder tokoloshi . Er ist Freddy K, und er hat Hunger, und der Teil von mir, der funktioniert,kann ihn

Weitere Kostenlose Bücher